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Stichwort: Aggression Leseprobe in
voller Länge aus dem Etymologie: Das Wort entstand im 18. Jahrhundert aus dem lateinischen »aggressio«. »Aggressio« setzt sich aus »gressio« (Schreiten, Schritt, Gehen) und der Vorsilbe »ad« (heran) zusammen und bedeutete »Angriff« gewaltsamer Art, wurde aber auch im übertragenen Sinne als »Angriff durch Rede« verwendet; in der Diskussion hieß es »Schlussfolgerung«; das dazugehörige Verb »aggredior« (ad-gredior) stand sowohl dafür, sich friedlich als auch sich feindlich zu nähern (einem Menschen oder einer Sache). Verwendung in der Gestalttherapie: In der Gestalttherapie ist die Aggression ein positiver Begriff für die Fähigkeit, die Umwelt an sich selbst anzupassen; erst die Unterdrückung der Aggression führt zu individueller und kollektiver Destruktivität – also zu ungerichteter, ziellos gewordener negativer Aggression. Der positive Sinn von Aggression, der ihre Unterdrückung eher problematisch werden lässt, besteht für die Gestalttherapie in drei Punkten: 1. Aggression beseitigt ein abgelehntes Objekt aus dem Organismus/Umwelt-Feld. Sie ist eine Abwehrreaktion auf Schmerz, auf das Eindringen von Fremdkörpern oder auf Gefahr. 2. Aggression zerstört eine überlebte Konstellation: Sie hat sich in der aktuellen Situation als hinderlich oder störend erwiesen. Durch die Zerstörung einer solchen Konstellation wird z.B. abgerissener Kontakt oder unterbrochene Kommunikation zwischen Konfliktparteien wieder hergestellt. 3. Aggression löst einen Konflikt, indem etwas Neues an die Stelle des Bestehenden gesetzt wird, das dem fehlbaren Urteil der Handelnden nach besser ist als das Bestehende. Das Wesen der Aggression besteht darin, dass sie nicht nach sinnloser Entladung (Destruktivität) sucht, sondern nach sinnvollem, zielgerichteten Einsatz. Erst die Unterdrückung der zielgerichteten Aggression führt zu Destruktivität. Während die zielgerichtete Aggression mit der Erreichung (meist sogar mit der Nichterreichung!) des Ziels beendet ist, kann die nicht-zielgerichtete Aggression prinzipiell nie zum Sieg oder zur Befriedigung führen und dehnt sich darum unendlich aus: Sie kann nicht als »Gestalt« abgeschlossen werden. Entwicklungsgeschichte: Angeregt durch die Untersuchungen seiner Frau Laura zum problematischen Übergang von der Flüssignahrung zur zerkauten Nahrung bei Kleinkindern hat Fritz Perls in seinem ersten Buch »Ego, Hunger, and Aggression« (1944, dt. »Das Ich, der Hunger und die Aggression«) geschlussfolgert: »Je mehr wir uns erlauben, Grausamkeit und Zerstörungslust am biologisch richtigen Ort – d.h. den Zähnen – auszuleben, desto geringer ist die Gefahr, dass die Aggression als Charakterzug ihr Ventil findet« (S. 234). Schon 1939 äußerte Laura Perls diesen Gedanken in einem Vortrag zur Friedenserziehung, gehalten in Johannesburg: »Die Verdrängung der individuellen Aggression [führt] unweigerlich zu einem Anstieg der universellen Aggression« (in: Leben an der Grenze, S. 14f). Paul Goodman entwickelte in den 1940er Jahren ähnliche Vorstellungen mit einer anderen Begrifflichkeit (»gesunde Gewalt«): »Je höher entwickelt die Ablenkungen sind, die das Ich verlangt, um so mehr verstärken sich die Abwehr und die Rationalisierungen gegen die Instinkte. Auf diese Weise wird die Spannung um so größer, wird die tägliche Unbewusstheit um so suggestiver und hypnotischer, wird die Selbstzerstörung um so unvermeidbarer. Die Rebellion der Instinkte gegen die oberflächlichen Ablenkungen des Ich ist eine gesunde Reaktion: Es ist eine gesunde Art der Gewalt, darauf berechnet, nicht den Organismus zu zerstören, sondern ihn von Leerheit zu befreien. Vom Ich könnte allerdings dieses Verlangen nach ›Bersten‹ (Wilhelm Reich) als Verlangen nach Selbstmord gedeutet werden« (zit. n. Drawing the Line, Ausg. v. 1977, S. 34). In dem Buch »Gestalttherapie« (PHG, Band »Grundlagen«, 1951) wurden diese Ansätze dann zu einer psychotherapeutischen und sozialkritischen Theorie ausformuliert (besonders in den Kapiteln 8 und 9). Funktion: Die Grundstruktur des aggressiven Kontaktes sieht nach Perls, Hefferline, Goodman (ebd.) folgendermaßen aus: 1. Initiative setzt den Inhalt: etwas muss sich nach Ansicht des Handelnden ändern, um ein (gutes) Weiterleben zu ermöglichen. 2. Die Aggression äußert sich in zwei »reinen« Formen, um den Inhalt, der aus der Initiative folgt, durchzusetzen: 2a. Vernichten: Beseitigen eines Objekts aus dem Organismus/Umwelt-Feld; Emotion: kalt und distanziert. 2b. Zerstören: Umgestalten eines Objekts im Organismus/Umwelt-Feld; Emotion: warm und lustvoll. 3. Wut ist eine Emotion, in der Vernichtungswille und Zerstörungslust zusammen kommen. 4. Initiative, Vernichten, Zerstören und Wut sind nötig, damit ein Organismus in einem schwierigen Umfeld existieren und auch gut leben kann. 5. Angst tritt auf, wenn die Kräfte, die sich der Initiative entgegenstellen, übermächtig werden. Damit schützt sich der Organismus vor aggressivem Kontakt in Situationen, in denen er Gefahr läuft, selbst vernichtet zu werden, wenn er seine Aggressivität äußert. Insofern hat auch die Angst eine natürliche und notwendige Funktion. Würdigung: Die positive Füllung des Wortes »Aggression« in der Gestalttherapie ist bis heute provokativ geblieben: Kann man Krieg, Gewalttäter oder Terror gutheißen? Natürlich war das anders gemeint. Die gestalttherapeutische These zur Aggression sollte erklären, warum sinnvolle und zielgerichtete Aggression in mörderische und sinnlose Destruktivität umschlägt – in alltägliche Gewalt, in Terror und in Krieg. Gleichwohl entsteht durch die Umdeutung des Aggressionsbegriffs ein unpraktischer Widerspruch zur Alltagssprache. Es würde der gestalttherapeutischen Theorie nichts nehmen, wenn man statt »(positive) Aggression« einfach »Energie«, »Zorn« oder »Aktivität« sagte. Auf jeden Fall aber bleibt festzuhalten: Die Umdeutung des Aggressionsbegriffs durch Perls und Goodman entspringt keiner Geringschätzung des Horrors von Gewalt und Krieg, sondern dem Wunsch nach einem lebensfähigen Frieden. Eine Befriedung, die auf Unterdrückung individueller Bedürfnisse und problemlösender Energie (Aggression) beruht, führt zwangsläufig zu einer sich ständig aufstauenden Unzufriedenheit, die sich periodisch in sinnlosen Gewaltexessen entläd. Wir haben uns dazu entschieden, in dem gestalttherapeutischen Zusammenhang an dem Wort »Aggression« in der Umdeutung von Perls und Goodman festzuhalten, weil die Provokation heilsam sein kann. Die These lautet: Die Aktivität des Lebens schließt ein, dass der Organismus fremde Umweltmaterie »aggressiv« in »Eigenes« verwandelt. Für diesen Vorgang muss der Organismus Energie (Aggression) aufbringen. Trifft der Organismus hierbei auf Hindernisse, steigert er die Energie, oder er nimmt Schaden. Eine ständige Behinderung bzw. Unterdrückung des Ausdrucks der Energie, die dem Organismus schadet, ihn jedoch nicht tötet, führt zu einem Überleben auf einem niedrigen Niveau. Die Energie wird unaufhörlich gereizt, kann aber nicht in zielerreichende Ergebnisse umgesetzt werden. Dies macht krank oder destruktiv. Literatur: George Bach, Kreative Aggression, in: Raymond J. Corsini (Hg.), Handbuch der Psychotherapie (1981), München 1987; Stefan Blankertz, Gestalt begreifen, Wuppertal 2003; Fritz Perls, Das Ich, der Hunger und die Aggression (1944), Stuttgart 1978; Fritz Perls, Ralph Hefferline, Paul Goodman, Gestalttherapie (1951), München 1980. Siehe auch: Adler, Alfred; Angst; Beißhemmung; From, Isadore; Goodman, Paul; Kontakt; Organismus/Umwelt-Feld; Perls, Fritz; Perls, Laura; Reich, Wilhelm; Sado-Masochismus © Stefan Blankertz und Erhard Doubrawa, Lexikon der Gestalttherapie, gikPRESS, Köln/Kassel 2017
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