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Stichwort: Existentialismus Leseprobe in
voller Länge aus dem Verstreute Hinweise einiger Begründer der Gestalttherapie (besonders Laura Perls in Interviews der 1980er Jahre) auf die Existenzphilosophie bzw. den Existenzialismus leben fort in einer vagen Kennzeichnung der Gestalttherapie als »existenzieller Therapie«. Eine genauere Betrachtung zeigt aber, dass der Bezug der Gestalttherapie zum Existenzialismus nicht unproblematisch ist, schon allein darum, weil es sich beim Existenzialismus nicht um eine einheitliche Schulrichtung handelt, dessen Autoren aufeinander aufbauen und ein harmonisches Ganzes repräsentieren. Der dänische Theologe Søren Kirkegaard (1813-1855) führte den Begriff der »Existenz« in die neuere Philosophie ein. Er stellte den Begriff gegen die Konzeption G.W.F. Hegels (1770-1831), nach der eine überindividuelle Vernunft sich in der Geschichte verwirklicht und dergegenüber das Dasein – die Existenz – des Einzelnen und seiner Leiden unerheblich sei. Ein zweiter wichtiger Vorläufer des Existenzialismus ist der deutsche Philosoph Edmund Husserl (1859-1938), der die Phänomenologie begründete. Der Begriff Existenzialphilosophie wurde in der Diskussion um Martin Heidegger (1889-1976) geprägt, der von der Philosophie eine Rückbesinnung aufs Dasein verlangte. Obwohl Heideggers Liebäugeln mit dem Nationalsozialismus ihn diskreditierte (vgl. Polster 1998), griffen nach dem Zweiten Weltkrieg gerade junge französische Intellektuelle seine Anregungen auf und begründeten den eigentlichen Existenzialismus; die hervorragenden Vertreter waren Jean-Paul Sartre (1905-1980), Albert Camus (1913-1960), Simone de Beauvoir (1908-1986) und Marcel Merleau-Ponty (1908-1961). Zentrales Anliegen der Existenzialisten wurde nun die Entscheidungsfreiheit des Menschen unabhängig von Vernunft, Gott oder überkommenen Moralvorstellungen; und hier lässt sich durchaus ein Anknüpfungspunkt für die Gestalttherapie erkennen. Der Überlieferung nach scheiterte die Kennzeichnung der Gestalttherapie als »Existenzialtherapie« in den Diskussionen der Gründungsrunde Ende der 1940er Jahre vor allem am Einspruch von Paul Goodman, dem der Existenzialismus zu »nihilistisch« war. Als Aristoteliker konnte er sich wohl mit der Irrationalität der Existenzialisten genauso wenig anfreunden wie als Konservativer mit ihrer Ablehnung der Tradition und als spiritueller Mensch mit ihrem kompromisslosen Atheismus. Aber nicht nur in Perls, Hefferline, Goodmans »Gestalttherapie« von 1951 fehlen Bezugnahmen auf die Existenzialisten, sondern auch in Fritz Perls’ »Das Ich, der Hunger und die Aggression« von 1944. Erst in den 1960er Jahren benutzt Fritz Perls den Begriff »Existenzialismus«, allerdings ohne genauer darauf einzugehen, was damit gemeint sei. Beispiel: »Der Existenzialismus will die Konzepte abschaffen und nach dem Prinzip der Bewusstheit arbeiten, auf der Grundlage der Phänomenologie« (Gestalttherapie in Aktion, 1969, S. 24f). Würdigung: Aus dem Existenzialismus ist für die Gestalttherapie interessant der Vorrang von der Entscheidungsfähigkeit im Augenblick der Bewährung. Für englischsprachige Therapeuten hat die Verwendung des Begriffs vielleicht noch eine andere Attraktivität: Während das Wort »Gestalt« im Englischen keinerlei Bedeutung hat (sodass »Gestalt Therapy« für den angelsächsischen Sprachraum ein reines Fach- und Kunstwort darstellt), ist »existence« als Wort für Dasein oder Lebensweisen sehr verständlich. Typisch ist folgende Aussage von dem amerikanischen Gestalttherapeuten Edward Smith in einem Interview 1990, die zeigt, wie vage die Anknüpfung ist: Edward Smith: »Die Gestalttherapie hat ihre Wurzeln in der Existenzphilosophie. […] Die Existenzphilosophie, wie sie von der Gestalttherapie aufgenommen und verarbeitet worden ist, konzentriert sich darauf, dass ›Existenz‹ das Ursprüngliche sei. [Nach J.P. Sartre] geht [im Menschen] die Existenz der Essenz voraus. Existenz ist das grundlegend Gegebene, ist das Sein. In der Weise, wie die Gestalttherapie dies gebraucht hat, heißt das: Es müssen die Verantwortlichkeiten beim Leben und Sich-Entscheiden betrachtet werden. Betont wird, dass wir Organismen sind, die auswählen, sich entscheiden, die verantwortlich sind für das, was sie entscheiden, und was daraus folgt. Es gibt einige grundlegende existenzielle Dimensionen der Erfahrung. Das sind Dauer, Ausmaß und Gewahrsein. Dauer heißt die Zeit, Ausmaß heißt die Dimension des Raums, und Gewahrsein ist eine Dimension des Bewusstseins. Dass wir existieren, heißt dann, dass unsere Existenz eine Erfahrung ist, im Raum, in der Zeit und in einem Körper zu sein. Die Gestalttherapie nutzt diese existenziellen Dimensionen, indem sie sich in erster Linie auf die Erfahrung des ›Jetzt‹ konzentriert, der gegebenen Zeit. Wir konzentrieren uns auf das ›Jetzt‹ – Vergangenheit und Zukunft werden als Referenzen angesehen, auf die sich der Moment der Erfahrung, das ›Jetzt‹, bezieht. Das ›Jetzt‹ ist der Nullpunkt, die Balance zwischen Vergangenheit und Zukunft. […] Etwas, das Fritz [Perls] geschrieben hat, hat mich sehr beeindruckt: seine Idee, ›Typen‹ von Philosophien zu bilden und sie mit dem Existenzialismus zu vergleichen. Er sagt, dass es – vereinfacht gesprochen – drei Kategorien von philosophischen Ansätzen gäbe: ›Darüber-Philosophie‹ [aboutism], ›Soll-Philosophie‹ [shouldism] sowie die ›Existenzial-Philosophie‹. – Darüber-Philosophie ist die Wissenschaft. Es ist ein philosophisches System, um eine Wissenschaft zu entwickeln, die die Dinge studiert, die die Dinge nicht erfährt und die sich nicht mit der Erfahrung des Seins beschäftigt, sondern die Welt studiert und über sie redet. – Soll-Philosophien sind moralischer Art, religiöse Philosophien, die Regeln entwickeln. Sie sagen etwa: ›So sollst du leben. Wenn du gut leben willst, sollst du dies tun und das lassen.‹ – Die Existenzial-Philosophie konzentriert sich dagegen darauf, was ist, weniger auf das, was sein sollte oder was sein könnte. Zur ›Existenzial-Philosophie‹ gehört auch eine Methode, die Phänomenologie. […] Die phänomenologische Therapie-Methode entspringt dieser Philosophie« (E. Smith in: R. L. Harman [Hg.], Werkstattgespräche Gestalttherapie, 1990, S. 14f). Literatur: Polster, E., Theorie in Praxis übersetzen: Martin Heidegger und die Gestalttherapie, 1998, in: ders., Das Herz der Gestalttherapie, Wuppertal 2002. Siehe auch: Ethik; existenzielle Therapie; Kant, Immanuel; Phänomenologie; Systemtheorie; Wahrnehmung © Stefan Blankertz und Erhard Doubrawa, Lexikon der Gestalttherapie, gikPRESS, Köln/Kassel 2017
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