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Stichwort: Buber, Martin Leseprobe in
voller Länge aus dem Lebensdaten: Geboren in Wien 1878, gestorben in Jerusalem 1965. Jüdischer Religions- und Sozialphilosoph. Verstand sich als religiöser Sozialist und Anarchist. Nachdem 1919 bei der Niederschlagung der Münchner Räterepublik sein Freund Gustav Landauer, ein führender Theoretiker des Anarchismus, erschlagen worden war, gab er dessen Schriften posthum heraus. Er sammelte und interpretierte die Texte der jüdisch-mystischen Tradition des »Chassidismus«. Seit 1938 lehrte er in Jerusalem. Vor und nach der Staatsgründung Israels engagierte er sich politisch für eine friedliche Koexistenz von Juden und Arabern in einer binationalen Föderation, unterlag aber den Nationalisten beider Seiten. Im Zentrum seiner philosophischen Anstrengungen stand der Dialog zwischen den Menschen und der Dialog zwischen dem Menschen und Gott. Hauptwerke: Ich u. Du (1923); Die Schrift (verdeutscht mit F. Rosenzweig; 1926-38/1954-62); Pfade in Utopia (1950); Der Jude und sein Judentum (1963). Bedeutung für die Gestalttherapie: Obwohl Fritz und Laura Perls in den 1920er Jahren nachweislich mit den Ideen und Schriften von Martin Buber (und seines anarchistischen Freundes Gustav Landauer) in Berührung gekommen waren, lässt sich weder in »Das Ich, der Hunger und die Aggression« (1944) noch in »Gestalttherapie« (1951) eine direkte Beeinflussung nachweisen, auch wenn Laura Perls in Interviews der späten 1980er Jahre auf die Bedeutung von Buber hinwies. (Vielleicht hängt das damit zusammen, dass Laura Perls in den 1920er Jahren bei Buber studiert hatte; vgl. Sreckovic, S. 40f; Lauras Einfluss auf die Entwicklung der Gestalttherapie ist, obwohl bedeutend, indirekt und schwerer fassbar.) Dennoch ist es konsequent, dass für die nachfolgenden Generationen von Theoretikern der Gestalttherapie wie Gary Yontef, Rich Hycner, Lynn Jacobs, Erving und Miriam Polster sowie Heik Portele und Frank-M. Staemmler die Schriften Bubers so wichtig geworden sind. Die Gestalttherapie forderte eine Authentizität der Beziehung zwischen Therapeuten und Klienten, die weit über das Arzt-Patienten-Verhältnis hinausweist, das Sigmund Freud, Alfred Adler, C.G. Jung oder Wilhelm Reich vorgelebt hatten. Da in der Gestalttherapie dem Kontakt die zentrale Bedeutung zugesprochen wurde und man alle psychischen Probleme auf Kontaktprobleme zurückführte, musste konsequenterweise für die Therapie der Kontakt zwischen Therapeuten und Klienten der Punkt sein, an dem die Heilung eingeleitet werden kann. Wenn man sich nach Theorien umschaut, die von der Beziehung zwischen Menschen jenseits von funktionalen soziologischen oder psychologischen Zweckverbindungen handeln, kommt man um Martin Buber und seine Begegnung im »Ich-Du« nicht herum. Man muss sich dabei jedoch immer wieder vor Augen halten, dass Buber keine psychotherapeutische Richtung begründen bzw. ihr zuarbeiten wollte. Heute wird Bubers Ich-Du allerdings auch in Kreisen der Gestalttherapeuten meist unpolitisch als »menschliche Haltung« gekennzeichnet – eine Haltung bezogen auf ein persönliches Gegenüber, dem ich als gleichwertig »begegne«, und das ich nicht verdinglicht »behandle« (Ich-Es). Oder es wird politisch naiv interpretiert: Wenn ich mich ändere, dann hat das eine Wirkung auch auf die Gesellschaft; dann ändert sich auch sie. Das ist ein richtiger erster Schritt. Aber leider auch nicht mehr als ein solcher. Dieser Schritt ist nicht zu verachten, doch allein auch noch nicht ausreichend. Genauso erforderlich ist eine gesellschaftliche Stellungnahme. An einer solchen hat es Buber nicht fehlen lassen. Das »wesenhafte Wir« (Buber) ist ein politisches Ziel, das konsequent weitergedacht auch eine therapeutische Intervention erfordert: »Eine besondere Beschaffenheit des Wir bekundet sich darin, dass zwischen seinen Gliedern eine wesentliche Beziehung besteht oder zeitweilig entsteht; d.h., dass in dem Wir die ontische [seinsmäßige] Unmittelbarkeit waltet, die die entscheidende Voraussetzung des Ich-Du-Verhältnisses ist. Das Wir schließt das Du potenziell ein. Nur Menschen, die fähig sind, zueinander wahrhaft Du zu sagen, können miteinander wahrhaft Wir sagen« (Buber, Das Problem des Menschen, 1938, S. 115f). Ein Beispiel für Bubers Verzahnung der Ich-Du-Philosophie mit politischer Stellungnahme: »Du, eingetan in die Schalen, in die dich Gesellschaft, Staat, Kirche, Schule, Wirtschaft, öffentliche Meinung und dein eigner Hochmut gesteckt haben, Mittelbarer unter Mittelbaren, durchbrich deine Schalen, werde unmittelbar, rühre Mensch die Menschen an! […] Entmenget die Menge! Aus Menschen, der ohnmächtigen Verlassenheit preisgegeben, aus ohnmächtiger Verlassenheit zusammengeratene Menschen ist das gestaltlose Wesen geworden – löst die Menschen aus ihm, bildet das Gestaltlose zu Gemeinden! Brecht den Vorenthalt, werft euch in die Brandung, reichet und ergreifet die Hände […], entmenget die Menge!« (Martin Buber, Hinweise, 1953, S. 290-293). Schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts hatte sich Buber mit dem utopisch-anarchistischen Traum von Gemeinschaft beschäftigt, doch zunächst ohne Zusammenhang mit ihrer politischen Verwirklichung. Buber lebte in dieser Zeit eine abgehobene und von den weltlichen Belangen getrennte, ferne »Erlebnismystik«. Er suchte (ekstatische) Zustände der Verzückung auf, um in ihnen zu verweilen. Dann jedoch »vergegnete« er einem Menschen, der in seiner Not zu ihm gekommen war, auf tragische Weise. Dazu aus dem Absatz mit dem Titel »Eine Bekehrung« aus Bubers »Autobiographischen Fragmenten« (1963, S. 22): »Es ereignete sich […], dass ich einmal, an einem Vormittag nach einem Morgen ›religiöser Begeisterung‹, den Besuch eines unbekannten jungen Menschen empfing, ohne mit der Seele dabei zu sein. Ich ließ es durchaus nicht an einem freundlichen Entgegenkommen fehlen, ich behandelte ihn nicht nachlässiger als alle seine Altersgenossen, die mich um diese Tageszeit wie ein Orakel, das mit sich reden lässt, aufzusuchen pflegten, ich unterhielt mich mit ihm aufmerksam und freimütig – und unterließ nur, die Fragen zu erraten, die er nicht stellte. Diese Fragen habe ich später, nicht lange darauf, von einem seiner Freunde – er selber lebte schon nicht mehr (er fiel zu Anfang des Ersten Weltkrieges) – ihrem wesentlichen Gehalt nach erfahren, erfahren, dass er nicht beiläufig, sondern schicksalhaft zu mir gekommen war, nicht um Plauderei, sondern um Entscheidung, gerade zu mir, gerade in dieser Stunde. Was erwarten wir, wenn wir verzweifeln und doch noch zu einem Menschen gehen? Wohl eine Gegenwärtigkeit, durch die uns gesagt wird, dass es ihn dennoch gibt, den Sinn. Seither habe ich jenes ›Religiöse‹, das nichts als Ausnahme ist, Herausnahme, Heraustritt, Ekstasis, aufgegeben oder es hat mich aufgegeben. Ich besitze nichts mehr als den Alltag, aus dem ich nie herausgenommen werde. […] Ich kenne keine Fülle mehr als die jeder sterblichen Stunde an Anspruch und Verantwortung.« Diese »Bekehrung« hatte eine einschneidende Wirkung auf Bubers Biografie. Infolge des zitierten erschütternden Erlebnisses, begann Buber, sich der Realität zuzuwenden. Auf diesem Hintergrund entstand seine dialogische Sichtweise. Der Kernbegriff von Bubers Sozialutopie ist die »Gemeinschaft«. Man erkennt an dieser Begriffswahl auch den damaligen Zeitgeist: Anfang des 20. Jahrhunderts konnte man noch »Gemeinschaft« sagen, ohne an die nationalsozialistische Verballhornung des Begriffs denken zu müssen. Die Nazis definierten Gemeinschaft als »germanisch« und Gesellschaft als »romanisch«. Ohne hier weiter auf die Begriffsgeschichte einzugehen, sei nur klargestellt, dass Buber (und Landauer) mit einer solchen rassischen Definition nichts gemein hatten. Auf Formulierungen Landauers zurückgehend, meint Buber: Eine neue Gesellschaft, »eine neue Kultur, eine neue Totalität der geistigen Welt kann nur entstehen, wenn es wieder wirkliche Gemeinschaft und Gemeinsamkeit, ein wirkliches Miteinander und Ineinanderleben, eine lebendige Unmittelbarkeit zwischen den Menschen gibt« (Martin Buber, Der Jude und sein Judentum, 1963, S. 702). Die Gemeinschaften zeichnen sich nach Buber dadurch aus, dass zwischen den Menschen noch unmittelbare Beziehungen möglich sind. Und aus diesen lebendigen Gemeinschaften soll »das Gemeinwesen als Verband lebenskräftiger, verwirklichungserfüllter Gemeindezellen« sich bilden. Schließlich soll aus diesen »die Menschheit als ein Verband solcher Gemeinwesen« sich herausbilden: »Landauers Idee war unsere Idee. Es war die Erkenntnis, dass es nicht darauf ankommt, Einrichtungen zu ändern, sondern das menschliche Leben, die Beziehungen der Menschen zueinander zu verwandeln. Dass Sozialismus nicht etwas ist, was aus der Entwicklung der wirtschaftlichen Verhältnisse heraus entsteht, sondern dass Sozialismus etwas ist, was nie kommen wird, wenn es nicht jetzt und von uns getan wird. Das war die Idee Gustav Landauers und das ist unsere Idee. […] Seien wir, die wir für den Lebenden nicht bereit waren, für den Toten bereit, für seine Lehre: für die Lehre des schöpferischen Sozialismus, die unsere eigene Wahrheit ist, endlich mit ganzer Seele bereit« (Buber, Der heimliche Führer, 1920, S. 36f). Buber und Landauer stellen sich das sozialistische Gemeinwesen in diesem Sinne als einen »Bund von Bünden« vor. Ihnen geht es um einen »sozialistischen Umbau des Staates zu einer Gemeinschaft von Gemeinschaften« (Buber, Pfade in Utopia, 1950, S. 82). Von daher wird Bubers beharrliches Misstrauen gegenüber Gesellschaftsordnungen und seine Ablehnung von staatlichem Zentralismus verständlich. »Im Staat, selbst in einem demokratischen, gibt es ein Übermaß an Macht« (ebd., S. 303). So entsteht in allen Staaten ein »politischer Überschuss«, dessen Gefahren nach Bubers Vorstellungen durch Dezentralisierung abgewehrt werden müssen. Bubers Sozialphilosophie bildet den Hintergrund für seine dialogische Auffassung, die er seit 1913 entwickelte und die sich in dem Text »Ich und Du« grundlegend findet. Auch in diesem Text von 1923 klingt die politische Dimension seines Ansatzes an – wenn auch, vier Jahre nach Landauers Tod, etwas zurückhaltend: Buber spricht von »Gemeinschaft«, von »Brüderschaft« und »wahrem öffentlichem Leben«. Erst Ende der 1930er Jahre führt Buber den Begriff des »Wir« in sein Denken ein, und zwar das »wesenhafte Wir«: »Die besondere Beschaffenheit des Wir bekundet sich darin, dass zwischen seinen Gliedern eine wesentliche Beziehung besteht oder zeitweilig entsteht; d.h. dass in dem Wir die ontische Unmittelbarkeit waltet, die die entscheidende Voraussetzung des Ich-Du-Verhältnisses ist. Das Wir schließt das Du potentiell ein. Nur Menschen, die fähig sind, zueinander wahrhaft Du zu sagen, können miteinander wahrhaft Wir sagen« (Buber, Werke I, S. 373f). Verständlich wird daraus, dass Gesellschaft aus vielen überschaubaren Gemeinschaftszellen entstehen muss, in denen Menschen »Du« und »Wir« sagen können. Neben Individualismus und Kollektivismus spricht Buber von einer dritten Grundmöglichkeit, der »Sphäre des Zwischen«. Diese ist zwei oder mehreren Wesen gemeinsam, doch greift sie über die Eigenbereiche beider hinaus. Diese Sphäre ist wesenhaft dialogisch. Und sie begründet das »wesenhafte Wir«. Würdigung: Gestalttherapeuten sollten sich im Klaren sein, dass Therapie immer einen Gesellschaftsbezug hat. Menschen kommen mit Leiden, die in dieser Gesellschaft entstanden sind. Was »krank« und was »gesund« ist, unterliegt den wechselnden gesellschaftlichen Definitionen, die nicht nur am Wohlergehen der Individuen, sondern auch – und oft auch vornehmlich – an Herrschaftsinteressen ausgerichtet sind. Der Gestalttherapeut bemüht sich um eine dialogische Beziehung mit seinem Klienten. Er geht davon aus, dass seine Seele am besten heilt, wenn wir einander als gleichwertige Partner begegnen und wenn sie sich dabei einander seelisch berühren. Das was letztlich heilend wirkt, ist sogar diese Begegnung. Sie geht tendenziell in die Richtung von Martin Bubers »Ich-Du-Beziehung«. Die (gestalt-)therapeutische Beziehung geht zwar tendenziell in Bubers Richtung, aber sie kann diese Richtung nicht bis zur letzten Konsequenz einhalten. Die Begegnung von Therapeut und Klient ist eine Begegnung zwischen einem Hilfesuchenden und einem professionellen Helfer. Diese Begegnung ist für den Hilfesuchenden besser als alle anderen Möglichkeiten in dieser Gesellschaft. Aber es bleibt doch ein Anteil von »instrumenteller« Beziehung: Der Klient ist für den Therapeuten das »Instrument«, den Lebensunterhalt zu verdienen. Der Therapeut ist das »Instrument« für den Klienten, in der Kälte der Welt zurechtzukommen. Letztlich steckt in unserer Begegnung die Utopie, uns eines Tages in einer Gesellschaft begegnen zu können, in der ein solch instrumentelles Verhältnis nicht mehr notwendig sein wird. Trotzdem muss sich der Gestalttherapeut bewusst machen, dass selbst diese instrumentelle Begegnung (fast) Gleichgestellter in unserer Gesellschaft eher die Ausnahme ist. Dass diese Begegnung fehlt, macht Menschen krank. Diese Begegnung ist eigentlich gar nicht vorgesehen in unserer Gesellschaft. Das macht die Menschen krank. Die hier vorgesehene Beziehungsform ist die des »Ich-Es«. Wenn man das überlegt, wird klar, dass wirkliche Heilung mehr braucht als eine heilsame Therapie. Sie braucht eine gesunde Gesellschaft, in der heilende Begegnungen vorgesehen und gewollt sind. Gesellschaft sollte so konstituiert sein, dass direkte Begegnungen von Menschen möglich sind. Also sind kleine gesellschaftliche Einheiten erforderlich, in denen Menschen im Dialog mit den anderen – ihnen persönlich bekannten – Menschen ihr Zusammenleben gestalten können. Eine wirkliche föderalistische Gesellschaftsstruktur, wo die kleinen Einheiten sich freiwillig zu größeren Einheiten zusammenschließen, um ihr Zusammenleben gemeinsam zu gestalten: »Ein Bund von Bünden von Bünden«. Und so schließlich die gesamte Menschheit. Staat soll es dann nicht mehr geben, es sei denn – so Buber –, nur um diese Organisationsweise von Zusammenschlüssen zu unterstützen. Veränderungen der Gesellschaft brauchen auch eine (öffentliche) gesellschaftliche Stellungnahme und ein gesellschaftliches Engagement. Therapie ist politisch. Doch politische Arbeit ist mehr als Therapie: Gestalttherapie will fähig machen zu selbstbestimmtem Leben. Deshalb muss Gestalttherapie die Klienten auch politikfähig machen. In der Lage, ihre Belange in der polis zu regeln. Gary Yontef: »In der gestalttherapeutischen Literatur wird bei der Darstellung von Kontakt nicht hinreichend deutlich gemacht, dass für eine erfolgreiche therapeutische Arbeit diese spezielle Art der Beziehung erforderlich ist, wie sie von Buber beschrieben wird. ›Ich und Du‹ ist als eine besondere, wechselseitige zwischenmenschliche Begegnung vielleicht die höchst entwickelte Form des Kontakts (Jacobs 1978). Durch das Medium der Beziehung steigert sich die Awareness, und der Patient kann wieder wachsen. Das Ich gewinnt Kontur als Teil einer ›Ich-Du-Einheit‹ oder einer ›Ich-Es-Einheit‹. Das Ich in einer Ich-Es-Beziehung sagt ›er‹, ›sie‹ oder ›es‹. Die andere Person wird nicht direkt angesprochen als Person. Die Ich-Du-Haltung gibt zu erkennen, dass der andere die volle Achtung besitzt und nicht etwa als ein Mittel zu irgendeinem Zweck behandelt wird. Ein Mensch kann einen anderen einseitig aus einer Ich-Du-Haltung behandeln, wenn auch die höchste Form des Ich-Du in der Gegenseitigkeit liegt, in der jeder ›Du‹ sagt. Dieses Du wird mein Gegenpart und meine Ergänzung, wodurch es mich befähigt, mich ganz zu erleben. In der Gestalttherapie sind unsere Beziehungen durch eine zunächst einseitige Ich-Du-Haltung geprägt, und wir hoffen, dass sich damit ein vollständiges und wechselseitiges Du entwickelt. Störungen der Ich-Du-Beziehung sind gleichzusetzen mit Kontaktverlust. In der Isolierung gibt es kein ›Ich-Du‹, nur das Ich antwortet auf sich selbst. In der Konfluenz verliert sich das Ich im Du oder das Du im Ich, weil das Bedürfnis nach Gleichheit jedes Erkennen von Unterschieden ausschließt. In einer ›Ich-Es‹-Beziehung bezieht man sich auf den anderen in Form des Objektes und unterwirft ihn der Manipulation. Der andere wird als Gegenüber zu einem bestimmten Zweck angesprochen. Der spezifisch menschliche und personale Aspekt bleibt ausgeschlossen. Eine Person mit der Haltung des ›Ich-Du‹ kann eine andere Person ansprechen (Ich-Du), ohne sie als ein zu manipulierendes Objekt (Ich-Es) zu behandeln, und doch kann das Ich-Du noch nicht vollständig sein, d.h. ein wechselseitiges Ich und Du hat sich noch nicht entwickelt. Entweder hat der andere nicht genug Vertrauen, oder es besteht zwischen beiden trotz ihrer Ich-Du-Haltung nicht genügend Support für ein Du. Scheu und Angst vor der Begegnung müssen langsam im Patienten wegschmelzen. Humanistische Therapeuten verschiedener Ansätze gestalten ihre Beziehungen oft mit einer Mischung aus einer Ich-Es- und einer Ich-Du-Haltung, zuweilen in der Überzeugung, es seien konsequente Ich-Du-Beziehungen. Manchmal behandeln Therapeuten ihre Patienten mit einer Ich-Du-Haltung, sind sich aber nicht im Klaren darüber, dass das Beziehungs-Ereignis des ›Du‹ noch nicht eingetreten ist. Verschiedene Haltungen in Bezug auf die therapeutische Beziehung erfordern eine unterschiedliche Theorie der Bewusstheit und eine unterschiedliche Methode. Ein Psychoanalytiker wird davon ausgehen, dass der nicht analysierte Patient sich seiner Motivation nicht bewusst sei, und weil sie ihm nicht verfügbar sei, könne er sich nicht selbst regulieren; seine Unfähigkeit, die beste Wahl zu treffen, mache ihn also angewiesen auf Lenkung durch Interpretation. Eine solche Einstellung vergegenständlicht den Patienten als ein Es (Objekt). Der Therapeut wird dadurch notwendigerweise zu einer übergeordneten, wohlwollenden Autoritätsfigur. Folgerichtig besteht die Behandlung im Hervorrufen der Übertragungsneurose und ihrer Auflösung. Die dieser Beziehungshaltung entsprechende Technik, die Interpretation, geht vom psychischen Determinismus aus, der die sich aufschließenden Möglichkeiten der Begegnung ausschaltet. Selbst der teilnehmende, empathische Psychoanalytiker, der den Gegenwartsaspekt der Übertragung erkennt, entwickelt andere Beziehungen als jemand, für den eine phänomenologische und/oder existentielle Haltung ausschlaggebend ist. Hier nämlich wird das, was der Patient weiß, mit größerem Respekt behandelt. Die Folgerungen und Intuitionen des Therapeuten werden konsequent als die seinigen bezeichnet, und Patient und Therapeut suchen zu ermitteln, ob es eine Übereinstimmung gibt zwischen den Angeboten des Therapeuten und dem, was der Patient in sich selbst erlebt. ›Es‹-Beziehungen sind vertikal, ›Du‹-Beziehungen sind horizontal. Ein Psychotherapeut oder Körpertherapeut, der meint, er wisse am besten, wie expressiv oder offen ein Patient sein müsse oder wie der Körper eigentlich aussehen sollte, oder der die Auffassung hat, es gebe eine Technik oder einen Kunstgriff, den der Patient unbedingt benutzen müsse, oder der am Ende glaubt, die Anregungen des Therapeuten sollten als strikte Anweisungen betrachtet werden, – ein solcher Therapeut behandelt den Patienten ebenfalls als Objekt. Gestalttherapeuten, die ihr Charisma oder Gestalttechniken benutzen, um schnelle Änderungen bei dem Patienten zu erreichen, die nicht im Dialog und in der Awareness und dem Selbst-Support des Patienten gegründet sind, geben ein weiteres Beispiel einer vertikalen Behandlung, von oben nach unten, und nähren damit eher ihr eigenes Ich als die Kompetenz der Patienten. Der Patient erlebt vielleicht zeitweilig ein Hoch, aber er lernt nicht begreifen, was er tut, wie er es tut und wie er sein Wachstum fördern kann« (Gary Yontef, Gestalttherapie als dialogische Methode, 1983, in: Doubrawa/Staemmler [Hg.], Heilende Beziehung, S. 33ff). Frank-M. Staemmler: »Martin Buber hebt in seiner philosophischen Anthropologie hervor, dass alle Menschen in einem wichtigen Punkt gleich sind: Sie sind einzigartig. Er meint damit keine Besonderheit, die jemandem einen größeren oder geringeren Wert zuschreiben würde, sondern die in jedem Menschen anzutreffende Einmaligkeit seines persönlichen Wesens. Kein Mensch ist wie der andere, jeder ist anders. Wenn man das ernst nimmt, muss man gegenüber jeder Person damit rechnen, in ihr etwas Neuartiges kennenlernen zu können, etwas, das sie von jedem anderen Menschen unterscheidet. Jeder Klient und jede Klientin, der/die zu mir kommt, ist anders als alle anderen, mit denen ich früher schon zu tun hatte. Es wäre von daher merkwürdig, wenn ich schon nach kurzer Zeit sicher zu wissen meinen würde, mit wem ich es zu tun habe. Die unumgängliche Unsicherheit, die ich in der Begegnung empfinde, kann, wenn ich sie kultiviere, zur Neugierde werden, mit der ich jedem Menschen gegen-übertrete, um herauszufinden, inwiefern er einmalig und anders als alle anderen ist. Das geht natürlich nur, wenn ich von vornherein bereit bin, in dieser Person ihre Einzigartigkeit zu suchen und nicht die tausendste Verkörperung einer bestimmten diagnostischen Kategorie. Die Zurückweisung vorgeformter Kategorien ist eine notwendige Voraussetzung dafür, einen Menschen in seiner Einmaligkeit zu erfassen. Die Unsicherheit, die es in mir hervorrufen mag, mich immer wieder auf etwas Neues einzulassen, kann aber in ihrer kultivierten Form als vorbeugendes Hilfsmittel gegen professionelle Langeweile und Routine wirken und mich darin unterstützen, in meiner Arbeit lebendig zu bleiben. Wenn ich mich auf neue Begegnungen einlasse, verzichte ich auf die Haltung eines quasi-objektiven Beobachters, der aus der Zurückgezogenheit eines von konventionellen diagnostischen Begriffen geprägten Blickwinkels sein Gegenüber einschätzt und einordnet. Ich begebe mich auf die Ebene des unmittelbaren, persönlichen Kontakts, in dem die Subjektivität sowohl der KlientInnen als auch meine eigene zur entscheidenden Dimension werden. Ich gebe dabei die Sicherheit auf, die mir ein Subjekt-Objekt-Verhältnis gegenüber meinen KlientInnen geben kann. Jeder Versuch, meine Subjektivität auszuschalten, würde aber bedeuten, mein eigenes, immer subjektives Menschsein auszuschalten und meinen KlientInnen damit jenes menschliche Gegenüber vorzuenthalten, an dem sie wachsen können. Die mit meiner Subjektivität verbundene Unsicherheit kann, so betrachtet, zu einem Gewinn an Menschlichkeit werden« (Frank-M. Staemmler, Kultivierte Unsicherheit, 1995, in: Erhard Doubrawa und Frank-M. Staemmler [Hg.], Heilende Beziehung, S. 148). Literatur: Buber, Martin, Der heimliche Führer, in: Die Arbeit, Organ der Zionistischen Volkssozialistischen Partei, Hapoel-Hazair 2/1920; ders., Hinweise, Zürich 1953; ders., Werke I, München/Heidelberg 1962; ders., Autobiographische Fragmente, in: Schlipp, P.A., und Friedman, M. (Hg.): Martin Buber, Stuttgart 1963; ders., Das Problem des Menschen (1938), Heidelberg 1982; ders., Pfade in Utopia, Heidelberg 1950; ders., Der Jude und sein Judentum (1963), Heidelberg 1985; Hycner, Rich, Die Ich-Du-Beziehung, Martin Buber und die Gestalttherapie, in: Doubrawa/ Staemmler (Hg.), Heilende Beziehung, Wuppertal 2003; Landauer, Gustav, Aufruf zum Sozialismus (1911), Wetzlar (1978); Muth, Cornelia, Zum Hintergrund von Martin Bubers Ich & Du, in: Gestaltkritik 2/2004; Petzold, Hilarion, Die Gestalttherapie von Fritz Perls, Laura Perls und Paul Goodman, in: Integrative Therapie, 1-2/1984, 5-72; Portele, Heik, Martin Buber für Gestalttherapeuten, in: Doubrawa/ Staemmler (Hg.), Heilende Beziehung, Wuppertal 2003. Siehe auch: Anarchismus © Stefan Blankertz und Erhard Doubrawa, Lexikon der Gestalttherapie, gikPRESS, Köln/Kassel 2017
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