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Stichwort: Retroflektion Leseprobe in
voller Länge aus dem Etymologie: Aus lateinisch »retro« (zurück, rückwärts, nach hinten) und »flexio« (Biegung). Definition: Durch Retroflektieren tut sich der Handelnde sowohl in negativer als auch in positiver Hinsicht das an, was »eigentlich« auf ein Objekt gerichtet ist. Jemand ist beispielsweise eigentlich auf jemanden anderes wütend. Seine introjizierte Norm sagt ihm aber, dass Wut etwas Schlechtes sei. Er darf also nicht selbst wütend auf den anderen zugehen, weil er dann ja seine Norm verletzen würde. Wohin mit der Wut? Er richtet die Energie der Wut gegen sich selbst, denn keine Norm verbietet ihm, Wut gegen sich selbst zu richten. Das ist Retroflektion: Selbstbestrafung. (Umgekehrt kann sich Retroflektion auch in Selbstbelohnung ausdrücken.) Wenn wir »retroflektieren«, tun wir uns das an, was wir jemand anderem antun möchten. Ein Kontakt mit dem Gegenüber kommt auf diese Weise gar nicht mehr zustande, nicht einmal in den rudimentären Ansätzen der Projektion oder der Introjektion. Wie alle Kontaktstörungen erfüllt auch die Retroflektion in gewissen Zusammenhängen eine gute Funktion. Verantwortliches Handeln beinhaltet, gegebenenfalls Schuld und Fehler einzugestehen. Den moralischen Maßstab, den man an andere anlegt, muss man auch für sich selbst gelten lassen, also »retroflektieren« können. Allerdings bleibt auch die Negation der Retroflektion eine Art Retroflektion: Man holt sich das, was man von anderen will – »Entschuldung« bzw. »Wertschätzung –, aber nicht bekommt, nur durch sich selbst. Beschreibung bei Perls, Hefferline, Goodman: »Nehmen wir nun an, die nach außen gerichteten Energien der Orientierung und des Zugriffs gingen ganz auf in der Umweltsituation, in Liebe, Wut, Mitleid, Trauer usw; der Patient wird aber damit nicht fertig und er muss unterbrechen, er fürchtet, zu verletzen (zerstören) oder verletzt zu werden. Notwendig wird er frustriert. Die beteiligten Energien werden nun gegen die einzigen ungefährlichen Objekte im Felde gekehrt, die eigene Persönlichkeit und den Körper. Dies sind Retroflektionen« (PHG, Band »Grundlagen«, S. 248f). Beschreibung bei Erving und Miriam Polster: »Retroflektion ist eine Zwitterfunktion, bei der der Betreffende sich selbst das zufügt, was er gern einem anderen zufügen würde, oder sich das antut, von dem er möchte, dass es ihm ein anderer antut. Er kann seine eigene Zielscheibe sein, sein eigener Nikolaus, sein eigenes Liebesverhältnis, was auch immer er will. Er verdichtet sein psychologisches Universum, indem er die Manipulation seines Selbst an die Stelle dessen setzt, was er als vergebliches Verlangen nach der Aufmerksamkeit anderer begreift. Die Retroflektion unterstreicht die zentrale menschliche Fähigkeit, sich selbst in Beobachter und Beobachteten oder auch Ausführer und Dulder aufzuteilen. Diese Fähigkeit manifestiert sich auf vielfache Weise. Der Mensch spricht mit sich selbst. Der menschliche Sinn für Humor ist ein Beweis für diese Spaltung, denn er bedeutet, dass der Mensch abseits stehen und die Widersinnigkeit oder Absurdität seines Verhaltens erkennen kann. Das Gefühl der Scham oder Verlegenheit impliziert die Perspektive der Selbstbeobachtung oder der Selbstbeurteilung. Der Mensch ist sich sogar mit Unbehagen seiner eigenen Sterblichkeit bewusst. […] Dennoch kann die retroflektive Aktivität im günstigsten Fall ein Selbstkorrektiv darstellen, indem sie den tatsächlichen Begrenzungen oder Gefahren entgegenwirkt, die der spontanen Natur des Menschen inhärent sind. Bei Gefühlsaufwallungen, die zur Gefahr werden könnten, muss der Mensch sich selbst zurückhalten, so wie er es auch täte, wenn er aus Übermut auf die Idee käme, sich beim Schwimmen zu weit vom Strand zu entfernen. Bei großem Engagement wird der Drang des betreffenden zur Handlung so stark und unkritisch, dass eine Gegenkraft nötig ist. […] Wenn ein Mensch wiederholt retroflektiert, dann blockiert er seine Ventile zur Außenwelt und bleibt in den Klauen widerstreitender, aber stagnierender Kräfte hängen. Wenn zum Beispiel ein Mensch sich dazu entschließt, nicht zu weinen, da dies die strengen Eltern von ihm verlangen, so braucht er dieses Opfer nur so lange zu bringen, wie er mit ihnen in Kontakt steht. Um ein erfülltes Leben zu haben, muss man sich bemühen, mit den existierenden Möglichkeiten Schritt zu halten, anstatt sich für alle Zeiten von Erfahrungen prägen zu lassen, die nur vorübergehend waren oder auf irrtümlicher Wahrnehmung oder Intuition basieren. Vielleicht glaubte man nur, man müsse das Weinen unterdrücken, während diese Notwendigkeit in Wirklichkeit nie bestand. Und möglicherweise besteht sie jetzt nicht, ganz unabhängig davon, ob man ursprünglich Recht hatte oder nicht. Denken ist an sich ein retroflektiver Prozess, eine subtile Art, mit sich selbst zu sprechen. Obwohl das Denken offensichtlich insoweit zersetzenden Charakter hat, als es das Handeln stört oder verzögert, so bietet es doch eine wertvolle Orientierung in solchen Lebensfragen, die zu komplex sind, um spontan gelöst zu werden. Die Berufswahl, die Entscheidung, ob man heiraten soll, die Lösung eines schwierigen mathematischen Problems, all dies zieht Vorteil aus dem vermittelnden Einfluss des Denkens. Selbst bei weniger wichtigen Entscheidungen, wie etwa welchen Film man sich ansehen soll, mag man denken: ›Ich will das-und-das nicht sehen; für mich ist das heute zu blutrünstig und zu deprimierend. Ich möchte viel lieber etwas sehen, was mich aufheitert.‹ Solange man nicht auf diese Weise darüber nachgedacht hatte, wusste man wahrscheinlich gar nicht, wohin man gehen wollte. Unglücklicherweise bewirkt die bei der Retroflektion auftretende Spaltung häufig inneren Verschleiß und schweren Stress, weil sie in sich geschlossen bleibt und nicht die erforderliche Aktion überleitet. Der Versuch einer Entwicklung würde deshalb bedeuten, die Energien umzulenken, sodass der innere Kampf geöffnet wird. Anstatt nur innerhalb des Individuums zu wirken, wird Energie frei, um eine Beziehung zu einem äußeren Objekt herzustellen. Die Aufhebung der Retroflektion beruht auf der Suche nach dem geeigneten anderen. Obwohl das Ziel darin besteht, den Kontakt mit den anderen zu suchen, so ist doch sehr häufig die Durcharbeitung des inneren Kampfes vorrangig. Da der Impuls, durch den Kontakt mit anderen zu agieren oder zu erleben, sehr ernsthaft überschattet ist, muss der Interaktion innerhalb des geteilten Selbst zu einem neuen Bewusstsein verholfen werden. Die genaue Beobachtung des physischen Verhaltens des Betreffenden bietet eine Möglichkeit, den Schauplatz des Kampfes zu identifizieren. In der Körperhaltung, Gestik und Bewegung zeigt sich der Kampf um die Kontrolle des menschlichen Körpers. […] Aber auf der schlimmeren Ebene der Retroflektion ist selbst diese innere Berücksichtigung seiner Bedürfnisse minimal. Wenn er nicht nur den Versuch, anderen Menschen nahe zu sein, als vergeblich erlebt hat, sondern auch sich selbst als unberührbar empfindet, dann kann er noch nicht einmal gut zu sich selbst sein. Er hat das ursprüngliche Verbot gegen das Berühren so tief introjiziert, dass er schon zu seinem eigenen Bewacher geworden ist. Er sitzt steif auf seinem Stuhl, und wenn er sich berührt – etwa beim Abtrocknen nach dem Bad –, dann ist diese Berührung völlig zweckdienlich. Er ist auf der Hut vor jedem Kontakt, selbst zwischen seinen beiden getrennten Selbsten. Nicht nur, dass er sich nicht an andere Menschen anschmiegt, er schmiegt sich überhaupt nicht an, nicht einmal an sich selbst. Im Frühstadium der Auflösung des retroflektiven Prozesses kann daher die Lockerung der Muskulatur oder des Aktionssystems den Betreffenden auf sich selbst, anstatt auf andere zubewegen. Eine Bewegung, die die Immobilisierung aufhebt und dem System wieder Lebensenergie zuführt, ist eine Bewegung zur schließlichen Wiederherstellung des Kontakts mit der Außenwelt, selbst wenn sie in der Zwischenzeit auf sich selbst gerichtet sein kann. Aber das ist nur von Nutzen. Der Betreffende akzeptiert sich selbst etwa im gleichen Maße, wie seine introjizierte oder sogar projizierte Welt da draußen es tat. Der erstarrte, retroflektierende Mensch, von jeglicher sexuellen Erfahrung mit anderen Menschen abgeschnitten, kann im Allgemeinen auch nur sehr schlecht masturbieren. Bei der Wiederherstellung seiner vollen Sexualität muss er möglicherweise zuerst lernen, richtig zu masturbieren. Wenn ihm dies gelingt, dann ist er schon auf dem besten Weg, sexuelle Erlebnisse mit einem anderen Menschen zu genießen. Natürlich müssen dabei Übergänge bewältigt werden, aber es ist einfacher für jemanden, Spanisch zu lernen, der schon Französisch kann, als für jemanden, der keine Fremdsprachenkenntnisse hat. Wenn erst einmal der natürliche Fluss der Energie wieder besteht, dann findet er auch sehr wahrscheinlich seine richtige Richtung. Jede neue Aktivität, die mit Muskelenergie verbunden ist, ist zunächst gehemmt und ungelenk. Die Auflösung des retroflektiven Impulses durchläuft das gleiche Stadium. Wenn ein Kind gehen lernt, muss es sich intensiv darauf konzentrieren, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Nachdem es aber dies gelernt hat, läuft es spontan, ohne daran zu denken. Dasselbe gilt für den retroflektiven Impuls. Gespannte Arme, geballte Fäuste, verkrampfter Kiefer, unbewegliches Zwerchfell oder Becken, Zähneknirschen, beständiges Stirnrunzeln – all diese muskulären Ausdrücke der Selbstkontrolle beginnen in der Kindheit ihre mühevolle und bewusste Kontrolle. Ich will das böse Wort nicht sagen, ich werde die weiche und schöne Haut meiner Mutter nicht berühren – das alles beginnt als bewusste Kontrolle. Ein Kind, das in Versuchung gerät, das Verbotene zu berühren, betrachtet das Objekt und sagt immer wieder: ›Nein, nein nein‹, als wäre es die eigenen Eltern. Später wird dies eingebaut, integriert, vergessen, und die daraus herrührende Spannung wird als gegeben hingenommen. Vergessen ja, aber nicht verborgen, denn der Körper besitzt viele Möglichkeiten, die vergessene Botschaft aufzuzeichnen. Magenkrämpfe, eingefallene Brust und eine ganze Reihe körperlicher Fehlfunktionen sind das Ergebnis. Der feindselige Mensch mit dem gespannten Unterkiefer, der seine eigenen aggressiven Impulse unterdrückt, wundert sich darüber, wie andere scherzen und ihre Mitmenschen aufziehen können; denn unter ähnlichen Umständen wirkt er selbst plump und beleidigend. […] Um die Retroflektion aufzuheben, muss man zum Selbstbewusstsein zurückkehren, das sie anfänglich begleitet hat. Der Mensch muss sich wieder bewusst werden, wie er sitzt, wie er anderen auf die Schulter klopft, wie er mit den Zähnen knirscht usw. Wenn er erst einmal weiß, was in ihm selbst vorgeht, dann wird seine Energie mobilisiert, um sich in der Fantasie oder der Aktion ein Ventil zu suchen. Dann kann er solche Vorstellungen ertragen, wem er zum Beispiel gern auf dem Schoß sitzen möchte, wen er mit einem Ringergriff zermalmen oder wen er sanft umarmen möchte« (Erving und Miriam Polster, Gestalttherapie, 1975, S. 91ff). Siehe auch: Gestaltwelle; Kontaktstörungen; Traum; Verantwortung © Stefan Blankertz und Erhard Doubrawa, Lexikon der Gestalttherapie, gikPRESS, Köln/Kassel 2017
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