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Stichwort: Kontakt Leseprobe in
voller Länge aus dem Etyhmologie: Der Begriff entstand im 17. Jahrhundert aus dem lateinischen »contactus«, zu »contigere« (2. Partizip von »contactum«), was »berühren« heißt. Bedeutung für die Gestalttherapie: Kontakt ist der zentrale Begriff der Gestalttherapie. In Aristoteles’ Schrift »Von der Seele«, die Perls, Hefferline, Goodman für »Gestalttherapie« als Hintergrund benutzten, werden alle Sinnesorgane als Kontaktorgane im Sinne von Berührtwerden charakterisiert. Das Ohr wird vom Ton berührt und das Auge von den Farben (Aristoteles’ Beschreibungen des Sehrvorgangs entsprechen der modernen Wellentheorie des Lichts.) Kontakt ist in der Gestalttherapie die Bezeichnung für einen Prozess des Austausches, z.B. zwischen Organismus und Umwelt. »Kontaktfähigkeit« bezeichnet die Fähigkeit, den »Kontakt« herzustellen, und »Kontaktgrenze« die entsprechende Fähigkeit, sich gegenüber der Umwelt als selbständiger Organismus zu behaupten und die eigenen Bedürfnisse zur Geltung zu bringen. Nahrungsaufnahme ist das Modell allen Kontakts (siehe das Stichwort »Nahrung«). Kontakt ist zunächst die Wahrnehmung von etwas, das assimiliert (angepasst) werden kann. Dann ist Kontakt die aggressive Bewegung zu diesem anpassbaren Wahrgenommenen hin oder die aggressive Abwehr dessen, was sich als unassimilierbar herausstellt. Jeder Organismus lebt dadurch, dass er Neues einbezieht, verdaut, assimiliert und integriert. Dieser Prozess des Lebens verlangt nach einer aggressiven Zerlegung der bestehenden »Gestalten« in seine assimilier- oder integrierbaren Elemente, egal ob es sich um Nahrung, Erlebnisse, Informationen, Einflüsse, Konflikte, Ideen oder Theorien handelt. Diese Elemente bilden das Umweltfeld. Dieses Feld des Lebens ist gekennzeichnet von der Spannung zwischen dem, was dem Organismus gleicht, und dem, was ihm nicht gleicht – also zwischen Konservativem und Neuem. Der Prozess des Lebens besteht darin, das jeweils »Ungleiche« oder »Neue« zu verdauen und anzupassen, um den Organismus zu erhalten, wachsen zu lassen und fortzupflanzen. Alle Fähigkeiten sind auf das so definierte Wohl des Organismus gerichtet. Die Gestalttherapie behandelt Störungen dieses Lebensprozesses: Es wird etwas nicht Nahrhaftes – etwas nicht Assimilierbares – als Nahrung ausgewählt, die Nahrung wird nicht genügend zerkleinert (assimilierbar gemacht), die Verdauung klappt nicht, die Assimilierung scheitert. Wie kann es dazu kommen, obgleich der Organismus mit seinem Streben nach Befriedigung und das Denken mit seinem Streben nach Wahrheit doch immer auf das Befriedigende hin zielen? Warum erscheint es oft so, als ob der Organismus eher das Falsche für sich tut als das Richtige? Können wir den Entscheidungen des Organismus überhaupt trauen? Der Grund dafür, dass der Organismus so große Schwierigkeiten hat, den lebensfähigen Kontakt mit der Umwelt herzustellen, liegt in der beschriebenen fortwährenden, sozial erzwungenen Unterdrückung der Aggression. Angst löst nicht so wie es sein sollte, eine nur zeitweilige und vorübergehende Gefühllosigkeit gegenüber den aggressiven Impulsen aus, sondern einen weitgehenden Verzicht darauf, auf das zu hören, was der Körper sagt. Die Angst ist weder so groß, dass der Organismus abstirbt, noch gibt es eine Entwarnung, Entspannung und Wiederaufnahme der »normalen« Lebensfunktionen. Wenn die erreichbare Nahrung zwar den Organismus irgendwie erhalten kann, aber wichtige Merkmale wie Geschmack, natürliche Zusammensetzung, ausgeglichene Wirkung auf den Stoffwechsel usw. nicht aufweist, tritt weder der Notstand des Hungers ein noch wird der Hunger befriedigt. In diesem Fall werden Körper und Geist getrennt: Der Geist behauptet, ausreichend Nahrung zur Verfügung gestellt zu haben, während der Körper Mangel meldet. Da der Geist diese Meldung für falsch erklärt, muss das Gefühl für den Körper reduziert werden. Der Geist verlässt sich nicht mehr auf die »Meldungen« des Körpers, entfremdet sich vom Körper und verliert damit die Basis der eigenen Funktion. Nähren als Zerkleinerung und als Verdauung des Neuen ist der grundlegende Prozess des Lebens: Das Ungleiche wird verwandelt und als Gleiches assimiliert und integriert, damit der Organismus wachsen kann. Sich nähren hieße, sagte der griechische Philosoph Aristoteles, »Ungleiches gleich zu machen«. Der Ort der Ernährung ist der Kontakt: Der Organismus berührt das Feld, wählt das ihm Gemäße aus und verleibt es sich ein. In dieser Weise versteht die Gestalttherapie alle Sinnesorgane als taktil. Sehen, Hören und Riechen sind Spezialformen des Tastens: Von dem jeweiligen Gegenstand wird die »mediale« Luft in Bewegung gesetzt, und es ist diese Bewegung, die das Sinnesorgan als Farbe, Ton oder Geruch spürt. Das Tasten kann freilich beschädigt werden. Es gibt eine Gesamtsituation, in der das Tasten misslingt. Alles Tastbare ist auf Dauer uninteressant. Diese These ist einer der wichtigsten Aspekte der Gestalttherapie: Erst eine genaue Analyse der beschädigten Wahrnehmung der Organismen – der »Neurosen« eben – kann aufdecken, welche gesellschaftlichen Bedingungen durch welche Mechanismen die Beschädigung hervorrufen. Die Beschädigung ist weder eine »anthropologische Konstante« noch eine »zufällige« geschichtliche Erscheinung, sondern Ergebnis einer gesellschaftlichen Fehlentwicklung. Um die gesellschaftliche Fehlentwicklung, die das gesamte Feld für den menschlichen Organismus zu einer ebenso gefährlichen wie unbefriedigenden Umgebung macht, verstehen zu können, müssen wir uns wieder dem Aspekt der Aggression im Kontakt zuwenden: Der menschliche Organismus, erfüllt mit dem Bedürfnis nach einem Gut, ausgestattet mit dem Tastsinn, um das Gut zu erkennen, und mit Aggression, um es assimilieren zu können, trifft nun auf folgende Situation: Alles, was er je begehren könnte – Nahrung, Unterkunft, Sicherheit, ja sogar Luxus, Bildung und Sinnlichkeit –, hat die Gesellschaft bereits zur Verfügung gestellt. Als Gegenleistung verlangt sie einen weitgehenden Verzicht auf Konflikt und Aggression, denn dies würde ja die Ordnung bedrohen, die für alle sorgt. Der Geist kann sich dieser Rationalität nicht entziehen: Er »will« die Ordnung und die Ruhe, aber um sie durchzusetzen, bedarf es der Aggression. Die Aggression richtet er gegen den eigenen Körper, der rebelliert. Er muss rebellieren, denn ohne Aggressivität, ohne Begehren, Zerstören und Neugestalten kann er sich die Gegenstände der Umgebung nicht so anpassen, dass sie ihm »gleich« werden. Sie bleiben äußerlich, fremd und unbefriedigend. Schließlich verdaut der Körper nicht einmal mehr ordnungsgemäß. Selbst die Nahrung ist entfremdet. Wer nicht zubeißt, kann nicht schmecken. Die Umgestaltung des Fremden zum Eigenen findet nicht statt. Die unzerkleinerten »Introjekte« liegen schwer im Magen. (Fritz Perls hat einmal bemerkt, dass die Angewohnheit, seinen Energiebedarf mit süßer Limonade zu decken – womöglich noch mit einem Strohhalm getrunken –, auf eine »Beißhemmung« zurückzuführen sei, die eine Regression auf eine frühkindliche Nahrungsaufnahme herbeiführen würde.) Wenn der Organismus auf diese Weise erkrankt, bleibt das nicht ohne Folgen für den Geist. Denn die verminderte Wahrnehmungsfähigkeit mündet auch in schlechterem Denken. Wir haben nun einen kranken Körper und einen kranken Geist, aber zwischen der Überwindung der Krankheit beider steht die Gesellschaft. Die Gesellschaft verbietet, was für sie gefährlich zu sein scheint, nämlich die aggressiven Ansprüche des einzelnen Menschen. Sie zerstört jedoch damit gleichzeitig die Lebensgrundlage für die Menschen (und sich selbst), deren Bedürfnisse eben nicht durchgängig sozial harmonisch sind. Was wir nach Perls, Hefferline, Goodman brauchen, um wieder gesund werden zu können, ist ein »vegetativer Anarchismus«: »ein bisschen mehr Unordnung, Schmutz, Impulsivität und ein bisschen weniger Staat« (PHG, Band »Grundlagen«, S. 89). Denn die Aggression richtet sich nicht auf das Schlechte, sondern darauf, die Umgebung des Organismus diesem anzupassen. Dieser Wunsch ist nicht ohne Konfliktpotential, und er muss durch ein Denken kanalisiert werden, das nach allgemeingültigen Gründen abwägt (Verantwortung). Diese Abwägung findet auch im Organismus statt, und der Konflikt wird zwischen den Organismen ausgetragen. Andernfalls verhungern der Körper und der Geist. Siehe auch: Aggression; Gestaltwelle; Kontaktstörungen; Psychologie; Verantwortung © Stefan Blankertz und Erhard Doubrawa, Lexikon der Gestalttherapie, gikPRESS, Köln/Kassel 2017
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