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Stichwort: Paradoxe Theorie der Veränderung Leseprobe in
voller Länge aus dem Arnold R. Beisser, der diese Theorie ausformuliert hat, schreibt dazu (in: Wozu brauche ich Flügel?, 1989, dt.: Wuppertal 2003, S. 139ff): »Der Gestalttherapeut verweigert die Rolle des ›Veränderers‹, weil seine Strategie darin besteht, den Klienten zu ermutigen, ja sogar darauf zu bestehen, dass er sein möge, wie und was er ist. Er glaubt, dass Veränderung nicht durch Bemühen, Zwang, Überzeugung, Einsicht, Interpretation oder ähnliche Mittel zu bewirken ist. Vielmehr entsteht Veränderung, wenn der Klient – zumindest für einen Moment – aufgibt, anders werden zu wollen, und stattdessen versucht zu sein, was er ist. Dies beruht auf der Prämisse, dass man festen Boden unter den Füßen braucht, um einen Schritt vorwärts zu machen, und dass es schwierig oder gar unmöglich ist, sich ohne diesen Boden fortzubewegen. Ein Mensch, der sich auf der Suche nach Veränderung in Therapie begibt, ist im Zwiespalt zwischen mindestens zwei einander widersprechenden Bestrebungen. Er bewegt sich ständig zwischen dem, wie er meint, sein zu sollen, und dem, wie er glaubt zu sein. Dabei identifiziert er sich nie ganz mit einer der beiden Seiten. Der Gestalttherapeut fordert den Klienten auf, sich ganz auf eine der beiden Seiten zu begeben – immer nur eine zur jeweiligen Zeit. Mit welcher Seite der Klient auch beginnt, er wird bald auf die andere wechseln. Der Gestalttherapeut bittet ihn einfach zu sein, was er im gegebenen Augenblick ist. Der Klient kommt zum Therapeuten, weil er verändert werden will. Viele Therapieformen akzeptieren das als legitimen Ausgangspunkt und machen sich dann daran, den Klienten mit verschiedenen Mitteln zu ändern; dabei etablieren sie eine Dichotomie, die Perls ›Topdog‹ und ›Underdog‹ nennt. Ein Therapeut, der versucht, einem Klienten zu helfen, hat die partnerschaftliche Position verlassen und ist zum wissenden Experten geworden, wobei der Klient die hilflose Rolle spielt – und dies, obwohl das Ziel darin besteht, dass Klient und Therapeut gleichberechtigt werden. Der Gestalttherapeut nimmt an, dass die Topdog-Underdog-Dichotomie bereits im Klienten existiert und dass die eine Seite in ihm die andere ändern will. Darum will er vermeiden, in eine der beiden Rollen verwickelt zu werden. Er versucht, dieser Falle zu entgehen und ermutigt darum den Klienten, beide Seiten in sich – immer eine zur Zeit – als seine eigene zu akzeptieren. […] Der Gestalttherapeut glaubt außerdem daran, dass der Mensch von Natur aus ein einheitliches, ganzes Wesen ist und nicht aufgespalten in zwei oder mehr gegensätzliche Teile. In diesem natürlichen Zustand verändert er sich ständig auf der Basis des dynamischen Austauschs zwischen sich und seiner Umwelt. Kardiner hat festgestellt, dass Freud bei der Entwicklung seiner strukturellen Theorie der Abwehrmechanismen Prozesse zu Strukturen gemacht hat (zum Beispiel wurde aus Verleugnen Verleugnung). Der Gestalttherapeut hält Veränderung dann für möglich, wenn das Gegenteil geschieht, d.h. wenn Strukturen in Prozesse überführt werden. Wenn das passiert, öffnet sich der Mensch dem teilnehmenden Austausch mit seiner Umwelt. Wenn fragmentierte, voneinander entfremdete Teile des Selbst in einer Person die Form separater Rollen annehmen, regt der Gestalttherapeut eine Kommunikation zwischen diesen Rollen an. Gegebenenfalls fordert er sie buchstäblich dazu auf, miteinander zu sprechen. Falls der Klient dem widerspricht oder auf eine Blockade hinweist, lädt der Therapeut ihn einfach ein, sich vollständig in den Widerspruch oder die Blockade hineinzuversetzen. Die Erfahrung hat gezeigt, dass Integration eintritt, wenn der Klient sich mit den entfremdeten Fragmenten identifiziert. Folglich kann man anders werden, wenn man – vollständig – wird, was man ist. Der Therapeut selbst ist jemand, der nicht nach Veränderung strebt, sondern nur danach zu sein, wer er ist. Die Bemühung des Klienten, den Therapeuten in eine seiner Stereotypen von Menschen einzupassen, z.B. in die des Helfers oder Topdogs, führen zu einem Konflikt zwischen ihnen. Der Endpunkt ist erreicht, wenn jeder von beiden er selbst sein und dabei innigen Kontakt mit dem andern halten kann. Auch der Therapeut kommt in Bewegung und ändert sich, wenn er danach strebt, gegenüber der anderen Person er selbst zu sein. Diese Form gegenseitiger Interaktion hat möglicherweise zur Folge, dass der Therapeut dann am wirkungsvollsten ist, wenn er sich am meisten verändert. Denn wenn er offen für Veränderung ist, hat er wahrscheinlich den größten Einfluss auf seinen Klienten. […] Da Veränderung sich exponentiell beschleunigt, ist es für das Überleben der Menschheit entscheidend, dass eine geordnete Methode sozialen Wandels gefunden wird. Die hier vorgeschlagene Veränderungstheorie hat ihre Wurzeln in der Psychotherapie. Sie entwickelte sich aus dyadischen therapeutischen Beziehungen. Aber ich meine, dieselben Prinzipien gelten für soziale Veränderungen, und der individuelle Veränderungsprozess ist nur ein Mikrokosmos des sozialen Veränderungsprozesses. Unvereinbare, unintegrierte und feindselige Elemente stellen eine große Bedrohung für die Gesellschaft dar, genauso wie für das Individuum. Die Trennung von alten und jungen Menschen, von reichen und armen, von schwarzen und weißen, von Akademikern und Hilfsarbeitern etc. aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu verschiedenen Generationen, Gebieten oder Schichten ist eine Gefahr für das Überleben der Menschheit. Wir müssen Wege finden, diese abgekapselten Fragmente miteinander in Verbindung zu bringen, damit sie zu Ebenen eines teilnehmenden, integrierten Systems der Systeme werden. Die paradoxe Theorie sozialer Veränderung, die ich hier vorschlage, basiert auf den Strategien, die Perls in seiner Gestalttherapie entwickelt hat. Sie lassen sich nach meiner Meinung auf die Organisation und Entwicklung von Gemeinden und auf andere Veränderungsprozesse anwenden, die mit demokratischen politischen Strukturen zu vereinbaren sind.« Siehe auch: Achtsamkeit; Beisser, Arnold; Haltung; Intervention; Phänomenologie; Topdog © Stefan Blankertz und Erhard Doubrawa, Lexikon der Gestalttherapie, gikPRESS, Köln/Kassel 2017
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