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Stichwort: Krankheit Leseprobe in
voller Länge aus dem Etymologie: »Krank« bedeutet ursprünglich »schmal, schlank, gering, schwach, nichtig« und war ein Euphemismus für »siech« (noch heute gibt es »dahinsiechen«). »Kränken« steht für »schwach, kraftlos machen«. Problematik: Der Krankheitsbegriff ist besonders im psychischen Bereich stark umstritten, da er einen großen normativen Anteil hat. Im Zuge der Zahlengläubigkeit wird der normative Charakter des Krankheitsbegriffs teilweise überdeckt, und es ergibt sich der Anschein, als handele es sich bei der Diagnose um konkrete Tatsachen. Wenn z.B. aus dem Verhältnis von Fettzellen zum Körpergewicht eine Zahl gebildet und eine Unter- bzw. Obergrenze festgelegt wird, jenseits derer das Krankhafte beginnt, verschwindet allzu oft aus dem Bewusstsein, dass es sich hierbei um ein Konstrukt handelt, das dem konkreten Einzelfall gegenüber unzureichend ist. Noch problematischer wird es im Bereich der Diagnose psychischer »Erkrankungen«. Im Rahmen des ICD (Internationale Klassifikation psychischer Störungen) und des DSM (Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen) werden Verhaltensweisen als Symptome gewertet, zusammengefasst und mit einem Oberbegriff belegt, der dann erscheint, als handele es sich um eine objektiv vorliegende »Krankheit«. Um die Krankheit zu diagnostizieren, braucht dann nur noch ausgezählt zu werden, ob und wie häufig die jeweiligen Symptome »erfüllt« (!) werden. Auf der anderen Seite ist es unredlich, so zu tun, als könne auf den Krankheitsbegriff gänzlich Verzicht geleistet werden. Denn »Therapie« bedeutet nun einmal »Heilung«. Der Begriff »Heilung« macht aber keinen Sinn, wenn es nicht etwas gibt, das geheilt werden soll, und das nennt man »Krankheit«. Die Antwort in der Gestalttherapie: Eine endgültig befriedigende Lösung der Problematik des Krankheitsbegriffs hat auch die Gestalttherapie bislang nicht gefunden. Als Leitlinien lassen sich jedoch drei Prinzipien ausmachen, nämlich: 1. Die Freiwilligkeit der Behandlung. Die Ablehnung von Zwangsbehandlungen heißt ausdrücklich nicht, dass ein Verhalten, das andere schädigt, toleriert werden muss. Jedoch ist es eine Sache, sich gegen derartiges Verhalten zu schützen, und eine ganz andere, den Betreffenden gegen seinen Willen therapieren zu wollen. Die Erfahrung zeigt ja auch, dass Zwangstherapien kaum Erfolg beschieden ist, obwohl der Sozialstaat viel Geld dafür ausgibt. 2. Die Würdigung. Damit ist gemeint, dass das (scheinbar) »Krankhafte« des Klienten zunächst als die kreative Lösung (s)eines Problems anzusehen ist, in der sich seine Kraft und seine Fähigkeit zur Problemlösung ausdrücken. 3. Die Selbstbeschränkung. In der Therapie kann es nicht darum gehen, einen Klienten, dem »Unmündigkeit« unterstellt wird, zur Mündigkeit zu führen. Vielmehr muss die Therapie die sozialen Bedingungen bekämpfen, die das Mündig-Sein oder Mündig-Werden des Klienten verhindern oder verhindert haben. Aus diesen Überlegungen folgt, dass die erste Aufgabe des Therapeuten paradoxerweise nicht die wirkungsvolle Behandlung ist, sondern die Begrenzung der Behandlung bzw. der Wirkung. Wenn er unter dem Motto, alles hinge ja mit allem zusammen, das Leiden aus der Totalität oder Gesamtheit des Lebens des Klienten begreift und zur Behandlung in diese Totalität eingreift, so überschreitet er seinen Auftrag. Er muss eher scheitern, als dass er Gott spielen dürfte. Der Therapeut kann »bloß« versuchen, dem Klienten die Entspannung in jenen Situationen zu ermöglichen, in denen objektiv die Entspannung »gefahrlos« ist (PHG, Band »Grundlagen«, S. 48). Auf diese Weise wird die Kraft des Klienten gesteigert, sich gegen die chronische Gefahr zu wehren. »Das Problem der Psychotherapie besteht darin, die Kräfte zur schöpferischen Anpassung des Patienten zu aktivieren, ohne sie den Lehrbuch-Schablonen des Therapeuten zu unterwerfen. Damit kommen wir zu unserer Frage nach dem Verhältnis zwischen der Selbstregulation des Neurotikers und der Vorstellung des Therapeuten, welche menschliche Natur es ›wiederherzustellen‹ gelte. Denn der Patient wird sich den Vorstellungen des Therapeuten entsprechend modellieren. In diesem Zusammenhang ist die [an einem früheren Ort im Buch] zitierte Warnung von [Kurt] Lewin zu verstehen, die Struktur der aktuellen Situation nicht als zu umfassende Totalität [Gesamtheit] zu analysieren« (ebd., S. 67). Das gestalttherapeutische Konzept der Selbstbeschränkung ist übrigens nicht zu verwechseln mit dem moralischen Zeigefinger von den psychotherapeutischen »Ethik-Kommissionen«. Eine Selbstbeschränkung wird der Gestalttherapie nicht beigegeben, sondern sie folgt aus der inneren Logik des Ansatzes. Literatur: Staemmler, Frank-M., Etiketten sind für Flaschen, nicht für Menschen, in: Gestalttherapie 1, 1989, S. 71-77; Szasz, Thomas, Die Fabrikation des Wahnsinns [1970], Olten 1974. Siehe auch: Diagnostik; Gesundheit; Lewin, Kurt; Neurose; Symptom Würdigung © Stefan Blankertz und Erhard Doubrawa, Lexikon der Gestalttherapie, gikPRESS, Köln/Kassel 2017
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