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Stichwort: Holismus Leseprobe in
voller Länge aus dem Von Jan Christiaan Smuts (1870-1950) aus dem griechischen Wort »hólos« (»ganz«) in der Schrift »Holism and Evolution« (1925) gebildeter Begriff, der im Deutschen dem der »Ganzheitlichkeit« entspricht. Neben der Bedeutung für die Gestalttherapie wirkte Smuts’ Holismus auf den englischen Biologen John Scott Haldane (1860-1936) und den deutschen Wissenschaftshistoriker Adolf Meyer-Abich (1893-1971), der 1938 die deutsche Ausgabe (»Die holistische Welt«) herausgegeben hat. Smuts formulierte den Holismus als eine zusammenhängende Theorie der Natur- und Geisteswissenschaften. Als solche umfasst der Holismus drei Ebenen: 1. Ganzheitlichkeit ist eine Betrachtungsweise, eine Erkenntnistheorie. Der Mensch strukturiert die ihn umgebenden Einzelteile als sinnhafte Gefüge. In dieser Hinsicht entspricht der Holismus der »Grazer Schule der Gestaltpsychologie« und der von ihr formulierten »Produktionsqualität der Gestalt«: Erkenntnis oder Wahrnehmung ist keine Zusammensetzung aus Einzelteilen, sondern die Auffassung von Ganzheiten, Formen oder Sinnstrukturen. Smuts bezieht sich bei diesem Aspekt auf Immanuel Kant. 2. Ganzheitlichkeit ist eine den Dingen innewohnende Eigenschaft. So ist z.B. ein Stein nicht die bloße Anhäufung einer bestimmten Anzahl von Atomen. In dieser Hinsicht entspricht der Holismus der »Berliner Schule der Gestaltpsychologie«, die die »Systemqualität der Gestalt« betonte: Das Ganze ist mehr und etwas anderes als die Summe seiner Teile (»Übersummativität«). Von hier aus ergibt sich auch eine Verbindung zur Feldtheorie. Smuts bezieht sich bei diesem Aspekt auf Platon. 3. Ganzheitlichkeit ist etwas, das angestrebt wird. Die Dinge streben nach Vervollständigung, sie streben danach, ein Ganzes zu werden. In dieser Hinsicht entspricht der Holismus der »Leipziger Schule der Gestaltpsychologie« und ihrer Betonung des Willens, um zu einer Gestalt zu finden. Smuts bezieht sich bei diesem Aspekt auf Hegel. Aber während sich die Gestalttheorie damit begnügte, Psychologie zu sein, stellte Smuts die These auf, Holismus sei die Struktur des gesamten Kosmos’. Obgleich der Titel seines Buches die Evolutionslehre als zentrales Lehrstück hervorhebt, wird im Verlaufe der Argumentation deutlich, dass auch die Physik und besonders die Relativitätstheorie Albert Einsteins eine tragende Rolle im Konzept des Holismus spielen. Fritz Perls las »Holism and Evolution« 1934 im Exil in Südafrika und war von ihm trotz des etwas problematischen politischen Hintergrunds (siehe unter J.C. Smuts) begeistert. Er fand dort die ihm bekannten gestalttheoretischen Grundsätze wieder, aber sie waren ihrer engen Begrenzung auf ein wissenschaftliches Fachgebiet enthoben und zu einer vollständigen Weltsicht ausgebaut worden. Die folgenden Zitate aus Smuts’ Buch machen jedoch nicht nur deutlich, inwiefern gestalttherapeutische Grundsätze an den Holismus anknüpfen können, sondern auch wo die Grenzen liegen. Denn Smuts zeichnet eine in sich vollkommen harmonische Welt der Ganzheit, der gegenüber die Gestalttherapie die Notwendigkeit von Konflikt und Aggression betont. Zentrale Aussagen von Jan Christiaan Smuts (zitiert nach der deutschen Übersetzung 1938): Das holistische Prinzip besagt, »dass die Wirklichkeit von Grund auf holistisch ist und dass alle Daseinsformen, in denen dieses Prinzip zum Ausdruck kommt, danach streben, Ganze zu sein oder holistisch in mehr oder minder starkem Maße zu sein. Dieses Buch führt die Evolution dieser Ganzen hinab in die Bereiche des Physikalischen und Biologischen, und es versucht aufzuzeigen, dass neue, in stärkerem Maße komplexe Ganze durch einen Vorgang, der als allmähliches Auftauchen, Hervortreten oder Sichtbarwerden bezeichnet werden kann, vom Boden der älteren einfacheren, vielleicht beständigeren und in sich gefestigteren Ganzen aus entstehen. Das neue Ganze enthält dem Werkstoff nach in sich ältere Ganze, aber es selbst ist wesenhaft neu und geht über den Stoff oder die Teile, auf die es sich gründet, hinaus. Die Wirklichkeit kommt somit in dem neuen Ganzen zum Durchbruch, sie wird in dem neuen Ganzen sichtbar, und nicht in der Summe der Teile, von denen dieses Ganze ausgegangen ist. Dieser Vorgang der Ganzenbildung begründet die Evolution und macht die Welt zu einer fortschreitenden Reihe von Ganzen oder individuellen Formen, und zwar von ihren physikalischen Anfängen an als Materie oder Energie bis zu ihren höchsten Schöpfungen als Leben in all seinen mannigfaltigen Formen und Stufungen. Die orthodoxe Wissenschaft hat sich, wie ich es im einzelnen belege, zu sehr ausschließlich mit der Zergliederung und mit der synthetischen Widerherstellung des Lebenden und der nichtlebenden Dinge aus ihren analystisch gewonnenen Elementen befasst, und sie hat dabei eine überaus wichtige Seite der Wirklichkeit übersehen, und zwar insofern, als das Ganze stets mehr ist als seine Teile oder Elemente, selbst wenn sie allesamt zusammengenommen werden« (S. X; aus dem Vorwort zur deutschen Ausgabe 1938). »Tatsächlich ist der Begriff des Kraftfeldes, der beim Elektromagnetismus geläufig ist, nur ein Sonderfall eines Phänomens, das in den Denk- und Wirklichkeitsbereichen ganz allgemein ist. Jedes ›Ding‹ hat sein Feld, das von der gleichen Art wie es selbst, nur abgeschwächter ist; ebenso hat jeder Begriff sein Feld. In diesen Feldern und nur hier allein geschehen die Dinge wirklich. Die Durchdringung und Überschneidung der Felder ist das in der Natur wie im Leben Schöpferische, das Ursächliche. Der durch seine Definition eng umgrenzte Begriff und das starr abgeschlossene Ding sind unfruchtbar, weil sie abstrakt sind. Nur durch ihre Felder können sie in wirkliche Berührung oder in tätige oder schöpferische Beziehungen zu andern Dingen oder Begriffen treten. Dinge, Begriffe, Pflanzen, Tiere, Menschen, sie alle haben wie physikalische Kräfte ihre Felder, und ohne ihre Felder würden sie unverständlich sein, ihre Tätigkeiten würden unmöglich und ihre Beziehungen unfruchtbar sein« (S. 13). »Die Pflanze oder das Tier [ist] ein Ganzes, das aus Millionen von Teilen in der Form von Zellen jeglicher Art besteht, während die Zellen wiederum kleinere Ganze von unbegrenzter Zusammengesetztheit und wundervollem Wirken sind. Alle diese Teile sind zugeordnet und bis in die kleinsten Einzelheiten geordnet und wirken mit der vollendetsten Vollkommenheit, um sich gegenseitig und den Organismus zu fördern. Der Organismus ist tatsächlich eine kleine lebende Gemeinschaft, in der Gesetz und Ordnung herrschen und in der jeder Teil mit jedem anderen Teil zusammenarbeitet und, in der Regel mit vollkommenster Regelmäßigkeit, den gemeinsamen Zwecken der Gemeinschaft dient. Gerade diese vollendete Gemeinschaft von Funktionen und Wirkungseinheit in einem System, das aus unzähligen Teilen und den höchstkomplexen strukturellen Anordnungen besteht, macht den Organismus zu solch einem wundervollen Typus eines Ganzen« (S. 83f). »Es gibt eine fortschreitenden Stufung dieser holistischen Synthese in der Natur. Wir gehen aus von 1. rein physikalischen Mischungen, in denen es fast kein Gefüge gibt und in denen die Teile weitgehend ihre besonderen Eigenschaften und Tätigkeiten oder Funktionen behalten. Wir kommen dann 2. zu chemischen Verbindungen, in denen das Gefüge stärker synthetisch ist und in denen die Tätigkeiten und Funktionen stärker durch das neue Gefüge beeinflusst werden, sodass sie nur sehr schwer auf die der einzelnen Teile zurückgeführt werden können. Und schließlich 3. kommen wir zu den Organismen, in denen eine noch vielmals stärkere Verknüpfung der Elemente erreicht wurde, die den Teilen oder Organen einen viel ausgeprägteren einheitgerichteten Charakter verleiht; wir treffen auf ein System der Ordnung und Zuordnung, aus dem schließlich die zentrale Aufsicht über alle Teile und Organe entsteht. Von diesen Organismen wiederum kommen wir 4. zum Geist oder zu den psychischen Organen, in denen die zentrale Aufsicht Bewusstsein und Freiheit und eine schöpferische Kraft von unvorstellbar weittragender Bedeutung gewinnt. Und letztlich 5. treffen wir auf die Persönlichkeit, die unter den Gefügen des Universums das höchste, am stärksten entwickelte Ganze ist und die zu einem eine neue Richtung gebenden, Neues zeugenden Mittelpunkt der Wirklichkeit wird. In jeder dieser fortschreitenden Reihen vertieft sich die Eigenart der Ganzheit. Der Holismus als Vorgang ist nicht allein schöpferisch, sondern selbstschöpferisch« (S. 89). »Unabweisbar ist es, zu erkennen, dass das Ganze nicht etwas ist, was zu den Teilen zusätzlich hinzukommt; es ist die Synthesis der Teile, die in einer bestimmten strukturellen Anordnung stehen und mit wechselseitigen Tätigkeiten ausgestattet sind, die das Ganze begründen« (S. 107). »Der Begriff des Ganzen bietet als Mittel, den Entwicklungsgang der Wirklichkeit festzulegen, mehrere Vorteile. […] Der Begriff des Holismus und des Ganzen gibt so getreu wie möglich den in der Natur beobachteten Prozess wieder, seine Anwendung wird es verhindern, die Wirklichkeitsfakten in eine der Natur fremde Form zu pressen. Er gibt die Möglichkeit, die Natur (gewissermaßen) aus sich selbst und durch ihre eigenen Normen erklären zu lassen. […] Sodann: […] Der Begriff Holismus umfasst (gewissermaßen) die heterogenen Begriffe Materie, Leben und Geist als polimorphe Formen des eigenen Seins. Er ist das genus, zu dem sie die fortschreitenden species sind. […] Drittens. […] Ich glaube, dass sie aus wissenschaftlichen und philosophischen Gründen geschehene begriffliche Unterordnung des Lebens unter den Begriff des Ganzen der unterliegenden Vorstellung eine weit größere Genauigkeit geben würde. Ein lebender Organismus ist nicht ein Organismus plus Leben, als wenn Leben etwas von ihm Verschiedenes und Zusätzliches wäre; gerade der Organismus in seinem einzigartigen Wesen als Ganzes kann genau definiert werden. Auch der Sinn, in dem er sich von einer als Ganzes betrachteten chemischem Verbindung unterscheidet, kann exakt definiert werden; es ist also unnötig, den lebenden Organismus oder, wie ich lieber sagen möchte, den holistischen Organismus zu beschreiben. […] Das Ganze, in unserem Sinne, soll nicht als das Allganze der absoluten Philosophie verstanden werden, sondern als das Ganze, das in kleinen Naturzentren oder empirischen, in der Natur beobachteten Ganzen belegt wird und wirksam ist. Dieser Begriff ist nun insoweit zu erweitern, als das Ganze als Ganzes plus seinem Felde verstanden wird, wobei das Feld nicht irgendetwas von ihm Verschiedenes und Zusätzliches, sondern die über die sinnlich wahrgenommenen Umrisse der Erfahrung hinausgreifende Fortführung ist« (S. 111ff). »Jedes organische Geschehen vollzieht sich nicht in Abgesondertheit, sondern in einer allgemein modifizierenden Atmosphäre anderer Geschehnisse. Diese innige gegenseitige Abhängigkeit des Funktionierens in einem organischen Felde bildet einen wesentlichen Teil im inneren Prozesse des Wechsels und des Fortschreitens« (S. 119). »Das Ganze bildet […] den Kausalitätsbegriff völlig um. Wenn eine äußere Ursache auf ein Ganzes wirkt, so ist die resultierende Wirkung nicht allein auf die Ursache zurückzuführen, sondern sie hat sich in dem Vorgang umgeformt. […] Daraus wird aber auch klar, in welcher Weise der Freiheitsbegriff in dem des (organischen oder andersartigen) Ganzen wurzelt. Denn die äußere Verursachung wird durch den unmerklichen Metabolismus des Ganzen zu etwas, was Teil seiner selbst ist, umgeformt; Andersheit wird zur Selbstheit; der Druck des Äußeren wird zum eigenen Wirken umgebildet« (S. 129). »Nachdem wir so versuchten, den Holismus als exakten wissenschaftlichen Begriff im weiteren Sinne zu rechtfertigen, seien jetzt die kennzeichnenden Hauptwesenszüge des holistischen Universums dargelegt, mit anderen Worten, jener Auffassung des Universums, die sich aus den in den vorhergegangenen Abschnitten erörterten Grundsätzen ergibt. Das Endergebnis ist, dass dieses Universum auf eine Ganzheit zustrebt, dass es die grundlegende Eigenart dieses Universums ist, aus Ganzen zusammengesetzt zu sein, aus immer vollständigeren und fortgeschritteneren Ganzen, und dass die Evolution des Universums, des anorganischen wie des organischen, nichts anderes ist als der Beleg für diesen Ganze hervorbringenden Wesenszug des Universum« (S. 335). »Der holistische Befehl [d.h. der Befehl, zur Ganzheit zu streben], der gleich einer lebenden Quelle aus den tiefsten Tiefen des Universums aufsteigt, ist der Bürge dafür, dass wir kein Misslingen zu erwarten haben, dass die Ideale des Wohlergehens, der Wahrheit, der Schönheit und der Güte sicher im Wesen der Dinge gegründet sind und nicht etwa gefährdet oder verlorengehen werden. Ganzheit, Heilung, Heiligkeit – alles Ausdrücke und Begriffe, die der gleichen Sprach- und Erfahrungswurzel entstammen – liegen auf dem unebenen, aufwärtsführenden Wege des Universums und werden bestimmt erreicht werden« (S. 355f). Siehe auch: Aggression; Feldtheorie; Gestaltpsychologie; Kant; Immanuel; Smuts, Jan Christiaan © Stefan Blankertz und Erhard Doubrawa, Lexikon der Gestalttherapie, gikPRESS, Köln/Kassel 2017
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