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Stichwort: Phänomenologie Leseprobe in
voller Länge aus dem Von Edmund Husserl (1859-1938) um 1900 begründete Schule der Philosophie. Das griechische Wort »phainomenon« bedeutet »das Erscheinende«; »Phänomenologie« heißt demnach in etwa »Erscheinungslehre« oder »Lehre von den Erscheinungen«. Unter »Phänomenologie« ist nicht zu verstehen, einfach die Dinge als Erscheinungen zu beschreiben. Vielmehr ist »Phänomenologie« ein erkenntnistheoretisches Programm (gewissermaßen eine Radikalisierung von Immanuel Kants »Kritik der reinen Vernunft«): Wir können alles das bezweifeln, was wir als »objektive« Dinge bezeichnen. Schließlich können uns unsere Sinne täuschen. Von den meisten Dingen allerdings wissen wir sogar nur vermittelt durch das, was andere sagen; und auch sie können sich irren oder sogar lügen. Von absoluter und unbezweifelbarer Sicherheit ist dagegen, dass wir wahrnehmen. Ein Beispiel ist der von zwei Zeugen beobachtete Autounfall. Beide berichten einen anderen Hergang. Man kann also durchaus bezweifeln, wenn einer der Zeugen am Ende seines Berichtes sagt: »Dies ist passiert.« Nicht bezweifeln können wir, dass er etwas wahrgenommen hat. Sofern er nicht lügt, also uns etwas anderes sagt, als was er wahrgenommen hat, ist es als Wahrnehmung auch dann wahr, wenn es nicht mit dem objektiven Hergang übereinstimmt. Wobei es sein kann, dass wir über den objektiven Hergang gar nichts wissen oder wissen können. Die Phänomenologie nimmt den Begriff »Wahrnehmung« ernst: Wahr ist, was wir für wahr »nehmen«. Allerdings folgt für Husserl aus diesem Gedanken kein Subjektivismus oder Relativismus, nach dem jeder seine eigene Wahrheit oder Welt bauen würde. Vielmehr stammt von Husserl die Aufforderung »zu den Sachen selbst!«. (Das wurde später von Martin Heidegger in seiner Version des Existenzialismus aufgenommen und als »Fundamentalontologie« – grundlegende Lehre vom Sein – bezeichnet.) Der Übergang von der Wahrnehmung zur Erkenntnis wird dadurch gekennzeichnet, dass immer »etwas« wahrgenommen wird. Das, was wahrgenommen wird, wird nicht beliebig fantasiert (oder, wenn man so will, projiziert). Damit die Wahrnehmung zur Erkenntnis werden kann, bedarf es des Bewusstseins, dessen wichtigste Eigenschaft nach Husserl darin besteht, eine Richtung oder Absicht zu haben (»Intention«). Durch die Absicht wird aus der Masse all dessen, was wahrgenommen werden kann, das »eingeklammert«, was von Interesse ist. Der Rest wird als Hintergrund »ausgeklammert«. All das, was wahrgenommen werden kann, ist der »Hintergrund« oder »Horizont«. An diese Konzeption konnte dann die Gestaltpsychologie mit dem Figur/Grund-Prozess wenig später nahtlos anschließen. Der Weg von der Wahrnehmung zur Erkenntnis vollzieht sich nach Husserl durch die »phänomenologische Reduktion.« Gemeint ist ein Zurückgehen auf das unmittelbar Erleb- bzw. Wahrnehmbare. Von Vorurteilen, Ideen, Konzeptionen, Vergleichen, Bewertungen, Hypothesen usw. soll möglichst vollständig abgesehen werden. Dabei ist es wesentlich, dass sich das Bewustsein sich selbst zuwendet, um festzustellen, was es im Bewusstsein hat und wie es dies im Bewusstsein hat. Dieses phänomenologische Bewusstsein kann durchaus mit dem (gestalt-) therapeutischen Begriff des Gewahrseins übersetzt werden. Die Phänomenologie hat geistesgeschichtlich besonders auf den französischen Existenzialismus gewirkt und lebt noch heute in den Theorien der »Postmoderne« fort. In der (Gestalt-)Therapie taucht die phänomenologische Reduktion als Aufforderung auf, das Erlebte ohne Bewertung oder Interpretation zu beschreiben. Bedeutung für die Gestalttherapie: Die Gestalttherapie hat aus dem erkenntnistheoretischen Programm der Phänomenologie ein psychotherapeutisches Programm gemacht, das auch dann noch gültig bleibt, wenn man die Phänomenologie als Erkenntnistheorie nicht als das letzte Wort ansieht: Der Weg, den die Gestalttherapie vorschlägt, besteht darin, sich mit dem Wie des Berichtes zu beschäftigen, nicht so sehr mit dem Was. Das »phänomenologische Vorgehen« in der Therapie beinhaltet, dass dem genauen Beschreiben der Erscheinungen, der Phänomene, der »Oberfläche«, des Sicht- und Fühlbaren der Vorrang gegenüber Erklärungen, Deutungen, Interpretationen, Hypothesen über Ursachen usw. eingeräumt wird. Fritz Perls: »Entwickeln Sie die Fähigkeit, Fakten zu würdigen, anstatt sie zu werten. […] Das neurotische Symptom ist immer ein Zeichen dafür, dass das biologische Selbst Aufmerksamkeit fordert. Es zeigt an, dass Sie (im Sinne Bergsons) die Intuition verloren haben – den Kontakt zwischen Ihrem bewussten und Ihrem spontanen Selbst. Um diesen Kontakt wiederherzustellen, müssen Sie zu allererst aufhören, irrelevante Fragen zu stellen wie das ewige ›Warum?‹ und sie durch relevante Fragen zu ersetzen: ›Wie?‹, ›Wann?‹, ›Wo?‹ und ›Wozu?‹. Anstatt Ursachen und Erklärungen zu produzieren, die richtig sein können oder auch nicht, müssen Sie Tatsachen feststellen. Durch den vollen Kontakt mit einem neurotischen Symptom wird es Ihnen möglich, es aufzulösen« (Fritz Perls, Das Ich, der Hunger und die Aggression, 1944, S. 232/275). Daniel Rosenblatt: »Ich möchte über etwas sprechen, das nicht eigentlich ein Konzept ist, sondern eher einen Hintergrund abgibt, nämlich die Phänomenologie, die eine der Grundlagen der Gestalttherapie darstellt. Für mich ist es fundamental wichtig, dass jede Person ihre eigene Erfahrung hat. Dies ist grundlegend anders als das Freudsche Konzept der Entwicklungsphasen, das besagt, das man spezifische Phasen durchmachen muss. Die Gestalttherapie geht davon aus, dass es weder Phasen gibt, die man durchlaufen muss, noch Arten, wie man etwas erfahren muss. Wenn man herausfinden will, was die individuelle Erfahrung des Patienten ist, so ist dieser Ausgangspunkt in Bezug auf die Arbeit wichtiger als alles andere. Man geht dann bei der Arbeit von der Voraussetzung aus: ›Ich will wissen, wer du bist, was für Erfahrungen du machst und wie du die Welt erlebst.‹ Um auf die Frage nach der diagnostischen Begrifflichkeit zurückzukommen, so ist bei einem phänomenologischen Ansatz ein solcher Begriffsapparat nicht nötig. Man steht daneben und fragt: ›Ich möchte deine Erfahrung kennen lernen; Ich möchte lernen, ich möchte herausfinden, ich möchte sehen, ob ich deine Erfahrung verstehen kann oder ein Teil deiner Erfahrung werden kann; ich möchte es selbst erfahren.‹ Ich weiß, dass das nicht unbedingt ein Teil des Kanons innerhalb der klinischen Psychologie ist, aber das ist meine Sicht der Dinge« (Daniel Rosenblatt, Ins eigene Fleisch beißen, 1987, in: Doubrawa [Hg.], Erzählte Gestalttherapie, S. 177f). Wilson van Dusen: »Die Wissenschaft findet das Allgemeine im Unterschiedlichen. Die Phänomenologie findet das Unterschiedliche im Allgemeinen« (Die natürliche Tiefe im Menschen, in: Rogers/Stevens, Von Mensch zu Mensch, 1967, Wuppertal 2001, S. 218). Erving Polster: »In der Gestalttherapie wird das Selbst-Gewahrsein durch Techniken gefördert, die eine phänomenologische Beschreibung der Selbst-Erfahrung verlangen. Man muss nach innen blicken, und das bedeutet: man darf nicht dabei stehenbleiben, das Leben als eine Selbstverständlichkeit zu verstehen. Dieser Blick umfasst den Atemvorgang, die Spannung der Schließmuskulatur, das Gewahrsein der Bewegung – eine unendliche Zahl feinster Details, von kleinen, körperlichen bis hin zu größeren, komplexeren Aspekten wie Erwartungen, Ängsten, Erregung, Erleichterung etc. Bei der Wahrnehmung all dessen geht es darum wiederzuentdecken, dass die eigene Existenz auf konkreten Erfahrungen beruht und nicht auf logischen Schlussfolgerungen wie etwa ›Natürlich atme ich, sonst wäre ich ja nicht mehr am Leben‹« (Zeitgemäße Psychotherapie, 1966, in: Erving und Miriam Polster, Das Herz der Gestalttherapie, S. 54) Gary Yontef: »Wenn man [z.B.] annimmt, dass die Mutter oder der Vater gestört sind, weil das Kind gestört ist, wird man manchmal Recht haben. Manchmal wird man nicht recht haben. Die Annahme tritt, selbst wenn sie richtig ist, immer der Erforschung der Beziehung und der Entwicklung in den Weg. Man kann keine klare phänomenologische Erforschung betreiben, wenn man der Situation ein festes Bild überstülpt, selbst wenn es ein relativ richtiges Bild ist« (Gespräch in: Robert L. Harmann [Hg.], Werkstattgespräche Gestalttherapie: Mit Gestalttherapeuten im Gespräch, Wuppertal 1990, S. 88). Literatur: Einen guten Überblick über das erkenntnistheoretische phänomenologische Programm gibt: Teresia Benedicta a Cruce OCD [Edith Stein], Einführung in die Philosophie, 1932, Freiburg 1991. Siehe auch: Bewusstsein; Gewahrsein; Existenzialismus; Gestaltpsychologie; Interpretation; Introjektion; Kant, Immanuel; Perls, Fritz; Projektion; Wahrnehmung; Wirklichkeit © Stefan Blankertz und Erhard Doubrawa, Lexikon der Gestalttherapie, gikPRESS, Köln/Kassel 2017
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