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Stichwort: Moreno, Jakob Levy Leseprobe in
voller Länge aus dem Lebensdaten: Geboren Bukarest 1892, gestorben Beacon (New York) 1974. Amerikanischer Psychiater und Begründer des Psychodramas. Bedeutung für die Gestalttherapie: In »Das Ich, der Hunger und die Aggression« (1944) bezieht sich Fritz Perls positiv auf Moreno, weil er den Missstand überwindet, dass Freud den Klienten zum passiven Objekt der Interpretation des Therapeuten macht. Es faszinierte Perls als Theaterliebhaber auch, dass hier die Klienten aufgefordert wurden, »ihre eigenen Dramen zu schreiben, zu inszenieren und darzustellen, was für ihn ein Mittel zum Selbstausdruck und zur Selbstverwirklichung ist« (S. 266). Obwohl sich Fritz Perls und Moreno nach Mitteilung von Laura Perls persönlich nicht mochten, ist das kein Grund, von einer Unvereinbarkeit der Konzepte auszugehen. Allerdings stehen Gestalttherapie und Psychodrama an den gegenüberliegenden Polen in einer gesellschaftlichen Situation, in der die Herrschenden sich anschickten, diejenige Utopie vom Ende der Konkurrenz zu verwirklichen, welche noch kritisch zu sein glaubte, aber bereits Angepasstheit ausdrückte. Moreno (1932, S. 33 und 35) etwa sprach von einer »therapeutischen Weltordnung«, die »ungünstige Gruppenformationen kontrolliert« mit einer Struktur, in der jeder »der therapeutische Anwalt des anderen« ist und eine »Autonomie [Selbstständigkeit] der gegenseitigen Abhängigkeit« herrscht. Es handelt sich bei dieser Utopie um das Ideal eines sich als »linksliberal« verortenden Progressivismus’. Aber die Begrifflichkeit unterscheidet sich nicht von der faschistischer oder marxistischer Parteien oder auch puritanischer Theokratie. Die Überreste der offenen, individuellen und konkurrierenden nordamerikanischen Gesellschaft werden abgelöst von einer zentralen sozialtechnischen Steuerung »gruppaler« Reaktionen. Das Ideal einer »gut organisierten globalen Gesellschaft«, die den einzelnen »stützen kann« und »ihn in Sicherheit bringt« (Moreno 1932, S. 24) tritt nicht mehr als vereinzeltes Denksystem auf, als Theokratie, Marxismus, Progressivismus, Faschismus oder Psychoanalyse, sondern als von allen gleichermaßen geteilte Meinung: Strittig sind in dieser allgemeinen Übereinstimmung zwar noch Methoden, Ziele, Organisationsformen, Legitimationsverfahren, personelle und soziale Strukturen des Zentralismus. Es gelingt aber, praktisch die gesamte bekannte Opposition – egal ob »links« oder »rechts« – dem Anpassungsdruck der »great society« zu unterwerfen. Die Opposition hatte die nie vollständig verwirklichte Liberalität mit der Realität des Kapitalismus verwechselt. Für die Herrschaft der Interessengruppen, die die Verwandlung in den verstaatlichten »politischen Kapitalismus« (nach Gabriel Kolko) kennzeichnet, fehlt ihr nun jedes kritische Handwerkszeug: Das Ende der Konkurrenz müsste doch, so hatte sowohl die linke als auch die rechte sozialistische Opposition behauptet, gleichzeitig das Ende des Elends sein, ökonomisch und psychologisch gesehen. Wenn also die Herrschenden an einer Gesellschaft ohne Konkurrenz mitbauen, werden sie auf diese Weise von Gegnern zu Verbündeten der Opposition. Die globale Sozialtechnik der therapeutischen Weltordnung hat einen entscheidenden Fehler: Sie produziert unglückliche Menschen und verstopft jede Aussicht oder Perspektive auf Zuflucht oder Besserung. Paul Goodman dagegen wandte sich in den 1940er Jahren im Zusammenhang mit den aktuellen Entwicklungen in der Psychoanalyse sowohl gegen den Verlust der Wünsche und Träume – Freuds »Es« – zu Gunsten rationaler Steuerungsfantasien bei Erich Fromm als auch gegen die verharmlosende Annahme einer konfliktfreien Triebstruktur – auch Freuds »Es« – bei Reich. Er sprach von der drohenden »Sociolatrie« nach einem Begriff von Comte, »Religion der Gesellschaft«. Und meinte genau die Moreno’sche Utopie: Eine aller inneren Konflikte und Leidenschaften enthobene, befriedete Weltgesellschaft mit unvorstellbar zerstörerischen Energien gegen alles, was als »außen« gedeutet wird. Wenn Burkhard Müller befürchtet, in Morenos Gesellschaft »universeller Selbsttherapie« gäbe es keine »Möglichkeiten des Entzugs« und keine »inneren Schlupflöcher« mehr, so ist dies ein Echo von Goodmans Schreckensvision einer Welt ohne Asyl. Goodman erkannte, dass in der Gesellschaft nicht eine Zunahme, sondern eine Abnahme von Aggression zu verzeichnen ist. Jedenfalls von Aggression, die zielgerichtet Konflikte zwischen Individuen oder Gruppen um die Gestaltung der Umwelt und die Befriedigung ihrer Bedürfnisse meint. Die organisierte, befriedete und zentralisierte Gesellschaft entfremdet die Menschen ihrer sozialen Konflikte, unterbindet Aggression und schneidet sie so von der Fähigkeit zur Kontrolle über das eigene Leben ab. Mit dem Verlust von Konflikten und konflikt-klärenden Verhaltensweisen verschwindet der Gedanke an alternative Möglichkeiten und der Wille zur Veränderung, denn beides schließt Aggressivität ein: Zerstörung eines Zustandes, um Platz zu machen für einen anderen Zustand. Jener Art Befriedung ist unausweichlich eingeschrieben, dass Bedürfnisbefriedigung abnimmt. Der soziale Zustand entfernt sich immer weiter von den Wünschen, Vorstellungen, schöpferischen Ideen der Menschen – und die Menschen haben keine Mittel mehr, um korrigierend einzugreifen. Die Unzufriedenheit kann sich nicht mehr vernünftig politisch artikulieren, sondern staut sich auf bis zur Bereitschaft, das bedrückende Ganze einschließlich der eigenen Person zu zerstören. Oder, psychoanalytisch gesagt: Das Ich deutet die unterdrückten, aber unabweisbaren Forderungen des Es als Forderung nach Selbstzerstörung. Die Aufgabe besteht dann gerade darin, die therapeutische Intervention so zu gestalten, dass sie nicht Teil der neuen, besseren Ordnung (die auch keine Weltordnung sein sollte) zu sein braucht. Ein Prototyp wäre zum Beispiel, dass Goodman während einer Protestversammlung mit einem unhörbar, wiewohl laut redenden Sprecher vor tausenden Zuhörern eine Atemübung macht, um seine Stimme zu lösen. Literatur: Moreno, Jakob Levy, Globale Psychotherapie und Aussichten einer therapeutischen Weltordnung (1932), jetzt in: Jahrbuch für Psychodrama, psychosoziale Praxis und Gesellschaftspolitik, 1991; Müller, Burkhard, Therapie als Metareligion: Morenos Utopie und Freuds Skepsis, in: Jahrbuch für Psychodrama, psychosoziale Praxis und Gesellschaftspolitik, 1992. Siehe auch bei: Aggression, Es; Freud, Sigmund; Goodman, Paul; Perls, Fritz; Reich, Wilhelm © Stefan Blankertz und Erhard Doubrawa, Lexikon der Gestalttherapie, gikPRESS, Köln/Kassel 2017
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