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Stichwort: Selbstregulierung Leseprobe in
voller Länge aus dem Auch: Autonomie, Eigenständigkeit, Selbstbestimmung, Selbstorganisation, Selbstregulation, Selbstständigkeit. Der Begriff bezeichnet einen Vorgang, der sich von innen her reguliert, ohne von außen gesteuert zu werden. Ein alltägliches Beispiel ist die Abschaltung der Wasserzufuhr, wenn der WC-Kasten nach Betätigung der Spülung voll ist. Durch einen Schwimmer wird das Weiterfließen des Wassers unterbrochen. In der Kybernetik wird dieser Vorgang »Rückkoppelung« genannt. Selbstregulierung findet nicht nur in technischen, sondern auch in biologischen Zusammenhängen statt und heißt dann zur Unterscheidung von der mechanischen oder technischen Selbstregulierung die »organismische (alternativ: organische) Selbstregulierung (alternativ: Selbstregulation)«. Die organismische Selbstregulierung weist gegenüber der technischen drei Besonderheiten auf: 1. Der Organismus hat seinen Zweck in sich selbst. Der Zweck besteht ganz allgemein gesprochen in der Selbsterhaltung (»Ernährung«). Die »Gestaltwelle« beschreibt die organismische Selbstregulierung. 2. Der Organismus er-schafft sich selbst. Die technische Apparatur wird geplant und ge-schaffen. Der Organismus dagegen trägt auch den Plan seines eigenen Aufbaus in sich (»Wachstum«). 3. Eine weitere Qualität des Wachstums ist die Möglichkeit der Anpassung: Der Organismus kann sich selbst aufgrund innerer Antriebe oder äußerer Einflüsse modifizieren (»Assimilation«). Auch auf der sozialen Ebene gibt es Selbstregulierung. Freundschaften, Beziehungen, Kooperationen und Handel sind sich weitgehend selbst regulierende soziale Organisationsformen (»Markt«). In komplexen Systemen, seien es technische, biologische oder soziale, greifen mehrere Ebenen der Selbstregulierung ineinander. Bei einem Lebewesen können wir eine Zelle, ein Organ, den Organismus als ganzes oder den Organismus und sein Umfeld betrachten und finden auf jeder Ebene Vorgänge der Selbstregulation, die aufeinander verweisen (»Feld«). Der Begriff der Selbstregulierung ist über lange Zeit hinweg eher belächelt worden. Wenn er aus dem mechanischen Zusammenhang heraus entwickelt wurde (»Kybernetik«), warf man ihm Technokratie vor. Wenn er aus dem natürlichen Zusammenhang heraus entwickelt wurde (»Gestalttheorie«, »Holismus«), warf man ihm Biologismus vor. Das ist auch nur konsequent, denn im Begriff der Selbstregulierung steckt eine politische Provokation, die sich gegen die zentrale (staatliche) Regulierung sozialer Verhältnisse richtet. Nachdem sich nicht nur in der Biologie, sondern auch in der Physik das Konzept (»Paradigma«) von Selbstregulierung bzw. Selbstorganisation durchgesetzt hat (z.B. die Selbstorganisation im Laserstrahl), ist der Begriff aus seiner belächelten schmuddeligen Ecke herausgekommen und hoffähig geworden. Eine Unsicherheit in dem Sprachgebrauch ergibt sich in der Gestalttherapie hinsichtlich des Bewusstseins. Perls, Hefferline, Goodman beklagen 1951, dass Gestaltpsychologen dazu tendieren würden, dem Bewusstein eine zweitrangige, sekundäre Bedeutung zuzuweisen (PHG, Band »Grundlagen«, S. 39). Sowohl das Bewusstsein als auch das Selbst stellen die Autoren als Teil der Selbstregulation dar: Ein Problem tritt im Kontakt auf und um es zu lösen wird das Bewusstsein (bzw. das Selbst) aktiviert. Andererseits wird von »Selbstregulierung« dann allerdings doch zumeist in den Zusammenhängen problemloser, »konservativer« Körpervorgänge ohne Gewahrsein gesprochen, die im Hintergrund ablaufen. Ein soziales Beispiel beleuchtet die Unsicherheit besonders. Die Autoren sprechen von »Situationen, wo die Selbstregulierung fehlbar ist«, »z.B. wenn ein Kind davon zurückgehalten wird, vor ein Auto zu rennen« (ebd., S. 60). Vom Kind aus gesehen ist die Selbstregulierung in der Tat fehlbar, aber gerade weil der sich selbst regulierende Part, den das Bewusstsein ausmacht, noch nicht entwickelt ist. Durch den Eingriff wird nicht die Selbstregulierung gebremst, sondern ihr wird gleichsam »ausgeholfen«. Andererseits ist die Selbstregulierung sehr wohl intakt, wenn nicht das Kind isoliert betrachtet wird, sondern im Kontext der Aufsicht durch die erwachsene Person. Das gemeinsame »Feld« von Kind und Erwachsenen reguliert sich hier durchaus selbst und zwar unter Einschluss des Bewusstseins. Die zentrale Passage zum Begriff »Selbstregulierung« in »Gestalttherapie« (1951) von Perls, Hefferline, Goodman lautet: »Spontane Prioritäten drücken die Weisheit aus, in der der Organismus seine eigenen Bedürfnisse ins Verhältnis setzt zu dem in der Umwelt, das diese Bedürfnisse zu befriedigen in der Lage ist. Diese Weisheit hat Bestand, selbst wenn die Selbstregulation im Interesse des Selbst begrenzt wird, z.B. wenn ein Kind davon abgehalten wird, auf der Straße in ein Auto zu laufen. Auf Selbstregulation des Kindes ist in dieser Situation nicht zu vertrauen. Unsere gesamte Gesellschaft scheint stark auf solchen Situationen zu basieren. Die Begrenzung der Selbstregulation ist dann notwendig. Aber wir müssen im Sinn behalten, dass wir in dem Maße, in welchem wir uns Situationen aussetzen, die nur ein Minimum an Selbstregulation zulassen, auch Energie und Lebenslust verringern. Die Frage, die sich jeder normale Mensch stellen sollte, lautet, wie viel Selbstregulation unter den gegenwärtigen Bedingungen von Gesellschaft, Technik und sogar Zustand der Natur möglich oder erlaubt und zu riskieren wäre. Wir glauben, die Selbstregulation ist viel tragfähiger, als gegenwärtig zugegeben wird« (S. 60). Die verwirrende Komplexität der Argumentation in dieser Textpassage rührt daher, dass Perls, Hefferline, Goodman hier implizit drei Ebenen ansprechen: 1. Die systematisch erste, aber verborgene Ebene enthält die traditionelle Aussage der Sozialphilosophie in der Linie etwa von Aristoteles, Thomas von Aquin und Kant: Die »natürlichen« Impulse des Menschen sind fehlbar. Die Vernunft – das »Selbst« – muss ebenso »spontan« wie die Impulse entscheiden, welche von ihnen zu verwirklichen im eigenen Interesse erlaubt sein kann. Sonst werden wir vom Auto überfahren. 2. Die zweite, offen ausgesprochene Ebene ist die der Psychotherapie in der Linie etwa von Wilhelm Reich: Die Einschränkungen, die die Vernunft gegenüber den Impulsen ausspricht, sind eine Verstümmelung der meist effektiven und richtigen organismischen »natürlichen« Selbstregulation. 3. Die Vermittlung der beiden Ebenen übernimmt eine dritte Aussage, die die spezifische Gestaltkritik ausmacht: Die Beschränkung der Impulse muss unter das Prinzip einer vernünftig ausgewiesenen doppelten Selbstbeschränkung gestellt werden, in der die Vernunft (a) das verbietet, was schädlich ist, sich jedoch (b) selbst ebenso untersagt, mehr als unbedingt nötig zu verbieten. Es gibt also nach Perls, Hefferline, Goodman kein unbedingtes Recht darauf, seine individuellen Bedürfnisse oder Wünsche, eben die Impulse, auszuleben, da ein Recht erst durch die Vernunft hergestellt werden kann, etwa in der Erkenntnis, dass die Beschränkung der Selbstregulation die menschliche Energie und den Witz beeinträchtigt. Aber ebensowenig hat die Gesellschaft das Recht, die Selbstregulation ständig auszusetzen, da das Recht nur im Falle des Konflikts (der fehlerhaften Selbstregulation) Sinn macht; wird es darüber hinaus ausgedehnt, sinkt es auf die Ebene eines unvernünftigen Impulses der Gesellschaft gegenüber dem Individuum, durch den die Gesellschaft sich selbst Schaden zufügt. Siehe auch: Anarchismus; Anpassung; Bewusstsein; Ethik; Gestaltkritik; Gestaltwelle; Gestaltpsychologie; GTI; Kontakt; Kybernetik; Reich, Wilhelm; Selbst © Stefan Blankertz und Erhard Doubrawa, Lexikon der Gestalttherapie, gikPRESS, Köln/Kassel 2017
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