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Stichwort: Gestalttherapie Leseprobe in
voller Länge aus dem Etymologie: »Gestalt« siehe Gestaltpsychologie; »Therapie« siehe Therapieziele. Definition: An dieser Stelle der Vorschlag einer kürzest möglichen Definition: Die Gestalttherapie befasst sich mit nicht angemessenem Verhalten. Als »nicht angemessen« wird Verhalten betrachtet, mit dem der Handelnde nicht erreicht, was er erreichen will (bzw. das ihn nicht befriedigt). Als Ursache für nicht angemessenes Verhalten gilt ein gestörter Kontakt mit der Wirklichkeit. Geschichte: 1947 kamen die deutschen Psychoanalytiker Fritz und Laura Perls nach New York. Fritz hatte zusammen mit Laura ein Manuskript für ein Buch angefangen, aber litt an einer Schreibhemmung. Die Konzeption des Buches bestand darin, über Freud hinauszugehen und die Unterdrückung der Libido als Spezialfall der Unterdrückung von Lebensenergie (Aggression) zu sehen. Diese Vorstellung erwuchs aus den Arbeiten des Freud-Schülers Wilhelm Reich. Doch Fritz Perls verstand die Lebensenergie anders als Reich: Während Reich die Lebensenergie für eine Art »Strom« hielt, der unaufhörlich und unwillkürlich flösse, sah Fritz Perls, dass das Leben immer mit der aktiven Umgestaltung und bewussten Umformung zu tun hat. Diese Aktivität der Lebensenergie nannte Fritz Perls »Aggression«. Außerdem wollte Fritz Perls die Einsichten der Gestaltpsychologen einbeziehen, die aufgedeckt hatten, wie »Wahrnehmung« im Menschen geschieht. In New York nun hatte Fritz Perls die Idee, den avantgardistischen, an Psychoanalyse und Wilhelm Reich interessierten Schriftsteller Paul Goodman zu bitten, »sein« Buch zu schreiben. Da Goodman ein armer Schlucker war, bot er ihm dafür 500 Dollar an – für Goodman eine riesige Summe. Die Zusammenarbeit mit Goodman stellte sich jedoch als nicht so einfach heraus. Goodman hatte seine eigenen Absichten. Er nahm das Geld und die Konzeptionen von Fritz und Laura Perls und verwirklichte mit ihnen seinen Wunsch, eine kritische Analyse der Gesellschaft zu schreiben. Herausgekommen ist bei dieser Zusammenarbeit das Buch »Gestalt Therapy« – ein Feuerwerk von kreativen Ansätzen und kritischen Bemerkungen zur Gesellschaft, aber sperrig in der Gedankenführung und keineswegs als Lehrbuch angelegt. Zu der Diskussionsgruppe um Fritz und Laura Perls gehörten neben Paul Goodman noch Elliott Shapiro, Ralf Hefferline, Jim Simkin, Isadore From und Paul Weisz. »Gestalt Therapy« ist 1951 erschienen. Es enthält den von Goodman (mit der Inspiration von Laura und Fritz Perls) verfassten theoretischen Teil sowie einen Teil mit im Wesentlichen von dem Gestaltpsychologen Ralf Hefferline entwickelten Experimenten zur Wahrnehmung. Fritz Perls und Paul Goodman waren während der Zusammenarbeit an dem Buch zu erbitterten Gegnern geworden. Fritz Perls ging an die Westküste der USA, um dort als Therapeut zu arbeiten, während Paul Goodman und Laura Perls an der Ostküste blieben. In den 1960er Jahren reagierten Fritz Perls und Paul Goodman ganz verschieden auf das sich ändernde gesellschaftliche Klima: Paul Goodman engagierte sich aktiv in der Protestbewegung, besonders im Kampf gegen den Vietnamkrieg und im Aufbau von Alternativen zur staatlichen Schule. Fritz Perls wurde zu einem Guru der »human potential«-Bewegung, in der die Menschen versuchten, persönlich mehr aus ihrem Leben zu machen – auch um zu größerer Kraft zu gelangen, die gesellschaftlichen Verhältnisse umzugestalten. Zwischen beiden Reaktionsweisen war zwar kein Widerspruch, aber auch keine echte Berührung. Mit großer Kreativität entwickelte Fritz Perls die Gestalttherapie weiter, indem er mit vielen Gruppen arbeitete und dort kleine Vorträge hielt – das Schreiben von Büchern war ihm auch später nicht angenehm. Seine zahlreichen Veröffentlichungen erwuchsen meist aus Transkripten von Stegreif-Vorträgen, Demonstrationen und Arbeiten in seinen Workshops. Das ursprüngliche Werk »Gestalt Therapy« vernachlässigte er, obgleich es objektiv gesehen allen seinen weiteren therapeutischen Bemühungen zugrunde lag. Auf diese Weise ist in der Gestalttherapie ein »Westküsten-Stil« entstanden, der sich durch die charismatische Wirkung von Fritz Perls auszeichnete, sowie ein eher politischer und theoretischer »Ostküsten-Stil«, der auf den Arbeiten von Laura Perls und Paul Goodman beruhte. Bis heute ist diese Spaltung zwischen West- und Ostküsten-Stil in der Gestalttherapie spürbar. Selbst für die deutschen Gestalttherapeuten gilt, dass es einen prägenden Einfluss auf den Stil hat, ob ihre Lehrer und ihre Neigungen eher zu der einen oder zu der anderen Seite tendieren. Wünschenswert wäre es, die alten und heute nicht mehr relevanten Gräben zu überwinden und eine Synthese zu schaffen: Die Unmittelbarkeit, Offenheit, Kreativität und Praxisorientierung von Fritz Perls soll bewahrt werden, jedoch heißt das nicht, dass auf die theoretische Fundierung und das politische Bewusstsein von Laura Perls und Paul Goodman verzichtet werden dürfte. Literatur: Stefan Blankertz, Gestalt begreifen, Wuppertal 2003; Anke und Erhard Doubrawa (Hg.), Erzählte Geschichte der Gestalttherapie, Wuppertal 2003; Laura Perls, Meine Wildnis ist die Seele des Anderen: Im Gespräch mit Dan Rosenblatt u.a. (1972), Wuppertal 1997; Taylor Stoehr, Here, Now, Next: Paul Goodman and the Origins of Gestalt Therapy, San Francisco 1994; Milan Sreckovic, Geschichte und Entwicklung der Gestalttherapie, in: Fuhr u.a., Handbuch der Gestalttherapie, Göttingen 2001. Siehe auch: Anarchismus; Aggression; Diagnostik; Gestalttechniken; Gesundheit; Goodman, Paul; Haltung; Kontakt; Krankheit; Libido; Perls, Fritz / Laura; Psychoanalyse; Reich, Wilhelm; Wirklichkeit © Stefan Blankertz und Erhard Doubrawa, Lexikon der Gestalttherapie, gikPRESS, Köln/Kassel 2017
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