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Stichwort: Haltung Leseprobe in
voller Länge aus dem Etymologie: Aus dem mittelhochdeutschen »haltunge«, Verwahrung, Gewahrsam, Haltung, Verhalten, Einhaltung. Bedeutung für die Gestalttherapie: Es ist üblich, psychotherapeutische Schulen einerseits mit ihren Theorien, andererseits mit einem Set von Methoden, Instrumenten und Techniken zu identifizieren. Obwohl die Gestalttherapie in der Vergangenheit fast stärker noch als mit einer Theorie mit Techniken wie »heißer Stuhl« verbunden worden ist, charakterisiert sie eher eine besondere Haltung. Es besteht ein wichtiger Unterschied dazwischen, ob man »Haltung« oder »Technik« bzw. »Methode« sagt. Immer wieder begegnet man bei Therapeuten und bei Leuten, die über Therapieformen schreiben, dass sie von »Gestalt-Techniken« ausgehen, wie vom leeren Stuhl, vom Dialog verschiedener Polaritäten im Klienten (wieder auf verschiedenen Stühlen!), von Fantasiereisen, von Körperübungen. Jenen geht es leider weniger um die besondere Haltung bei der Arbeit mit Klienten, also um die Gestalt-Haltung. Zur Gestalt-Haltung zählen vor allem:
Diese Haltung folgt aus der Einsicht, dass die Wahrheit nur in der Wahrnehmung zu finden ist. Darum muss der Therapeut als wahrnehmende Person in der Therapie anwesend, also präsent sein. Was wir z.B. von Fritz Perls über die Haltung und Arbeitsweise der Gestalttherapie lernen können, wenn wir die Transkripte seiner Demonstrationen lesen bzw. hören, soll am Beispiel seiner Arbeiten mit Träumen erläutert werden. Ein Klient erzählt einen Traum. Der Psychoanalytiker würde ihn mit seinem Expertenwissen deuten, je nach psychoanalytischer Schulrichtung etwas anders; z.B.: Bei Freud ginge es mehr um Tod und Sexualität, bei Jung mehr um die tiefen inneren Bilder, die allen Menschen innewohnen. Dabei würden die geträumten Inhalte (Tiere, Gegenstände usw.) als Symbol für etwas anderes verstanden, das der Therapeut durch seine Interpretation herausfindet. Fritz Perls geht anders vor. Nicht er als Therapeut deutet den Traum des Klienten, sondern der Klient arbeitet selbst mit seinem Traum um auf diese Weise die Bedeutung des Traumes für sich zu erforschen. Fritz geht davon aus, dass alle Trauminhalte mit dem Klienten zu tun haben und dass der Traum ein kreativer Schöpfungsakt des Klienten ist. Es gibt sicher eine Vielzahl von Möglichkeiten, eine Vielzahl von Weisen und Wegen, Träume auf gestaltische Weise zu bearbeiten. Fritz Perls wählt in seinen Demonstrationen häufig diesen Weg: Er fordert den Klienten auf, den Traum noch einmal im Hier-und-Jetzt zu erzählen, so als würde er jetzt gerade stattfinden. Das hat gleich als erstes schon einmal die Wirkung, den forschenden Blick von der Vergangenheit (»den archäologischen Blick des Analytikers« hat Laura Perls ihn ironisch genannt) auf die Gegenwart, also auf das, was gerade stattfindet, zu richten. Als nächstes geht es sowohl um die Inhalte des Traumes, als auch um den Prozess der Arbeit, den Prozess des Er-Forschens des Traumes. Der Klient wird aufgefordert, sich mit einem bestimmten Trauminhalt (dem Polizisten, der Straße, der Wüste, der Lokomotive etc.) zu identifizieren und zwar mit allen möglichen Trauminhalten nacheinander und den Traum aus der Perspektive dieses Trauminhaltes zu erzählen. Manchmal lädt er den Klienten dabei auch ein, verschiedene Trauminhalte miteinander ins Gespräch zu bringen. Nicht selten arbeitet er dann mit Hilfe eines zweiten Stuhls, auf dem einer der Trauminhalte dann Platz nimmt und mit dem anderen Trauminhalt »spricht«. Dies alles geschieht, damit nicht der Therapeut den Traum deutet, sondern damit der Klient seinen Traum selbst erforscht. Diese therapeutische Vorgehensweise hält den Raum für die Selbst-Entdeckung offen. So gewinnt der Klient aus der Arbeit am Traum selbst seinen Sinn des Traumes, seine Bedeutung des Traumes. Der Therapeut kennt den Sinn oder die Bedeutung des Traumes nicht nicht vorab und manchmal auch nicht nach der Arbeit. Wenn es beim Klienten »klick« macht, ist das genug. Als Technik betrachtet würde eine Auswertung der Traumarbeit von Fritz Perls möglicherweise ganz anders aussehen: Der Therapeut müsste wissen, mit welchem Trauminhalt der Klient sich »am besten« zuerst identifizieren sollte, gleichsam wie ein »didaktisches Konzept für die Traumerforschung«. Der Therapeut würde die Traumerforschung durch die Auswahl der Trauminhalte, mit denen der Klient sich identifizieren sollte, und durch die Reihenfolge der Trauminhalte lenken, so wie ein Lehrer geschickt »Fragen« stellt, um die Schüler auf diese Weise zu bestimmten, von vorn herein feststehenden und dem Lehrer bekannten, Antworten zu führen. Auf diese Weise gibt es nichts zu entdecken. Ein solcher Prozess wäre langweilig und quälend, eben wie auch die Schule oft. Die Verwechslung von »Haltung« und »Methode« führt mitunter zu hartnäckigen Vorurteilen, die darum aber nicht richtiger werden. In einer der frühen Ausgaben des Buches »Irren ist menschlich« des Klassikers der Psychotherapie-/Psychiatrie-Lehrbücher wird vor der Anwendung der Gestalttherapie bei Menschen in psychotischen Krisen gewarnt. Die »berühmten« Gestalttechniken (z.B. die Arbeit mit inneren Polaritäten auf verschiedenen Stühlen bzw. die »pushende« Technik der Verstärkung z.B. einer Bewegung, eines sprachlichen Ausdrucks) könnten die Krise des Patienten verstärken. Nur ein (Gestalt-)Therapeut, der sich starr an Methoden oder Techniken hält, würde jedoch so verfahren. Auf dem Hintergrund der Gestalt-Haltung wird ein Therapeut keine Methoden, keine Techniken anzuwenden versuchen, die den Klienten noch mehr irritieren, noch mehr beunruhigen, noch mehr ängstigen, noch mehr verletzen. Das heißt, den Gestalttherapeuten zeichnet zuerst und zutiefst aus, wie er dem Klienten mit seiner Präsenz, seiner Aufmerksamkeit, seiner Achtsamkeit begegnet. Aus den Anforderungen des besonderen Menschen in dieser besonderen Situation versucht er, die angemessenen Interventionen zu schöpfen oder verzichtet sogar auf Interventionen! Statt »hart« zu intervenieren, kann er auch »einfach« nur zuhören, sich vom Klienten seelisch berühren lassen und dabei in sich selbst hineinhorchen schauen, was sich dabei in ihm regt, welche Körperempfindungen, welche Gefühle, welche Gedanken, welche Fantasien. Dann kann er vielleicht auch sein eigenes Erleben dem Klienten mitteilen und ihn auf diese »sanfte« Art einladen, das eigene Erleben weiter zu erforschen. Selbstreflektion und Selbstbeschränkung: Die Gestalttherapie hat ein aufklärerisches Anliegen. Sie entwickelt keinen inhaltlich-materialen Maßstab vom richtigen Handeln, an den sie den Klienten heranzuführen versucht. Vielmehr klärt sie auf zum einen über unbeabsichtigte, aber unvermeidliche Neben- und Mitwirkungen von bestimmten Handlungen und zum anderen über unbewusste außersachliche Hemmungen, das zu tun, was jemand will. Die Konzentration der Gestalttherapie aufs Handeln bringt zweierlei mit sich: 1. Da Handeln immer in der Gegenwart stattfindet, ist Ausgangs- und Endpunkt der Betrachtung, der Intervention und der Aufklärung das Hier-und-Jetzt. Vergangenheit und Zukunft spielen immer nur insoweit eine Rolle, als sie Bedeutung fürs aktuelle Handeln und Erleben haben. 2. Obgleich das Handeln, Erleben und die Gegenwart im fortlaufenden, unendlichen Strom des Lebens stehen, zergliedert die Betonung des Hier-und-Jetzt diesen Strom des Lebens in Sinnabschnitte. Der Sinn ist die Gegenwart, auf die hin das Ganze der Erinnerungen, Erfahrungen und Hoffnungen bezogen wird. Die Handlungsstränge müssen, auf diese Weise betrachtet, zu einem ruhenden Abschluss kommen eben eine Gestalt bilden , wo sie ihre jeweiligen Ziele erreichen, um Platz zu machen für neue Gestalten. Der Grundsatz der Gestalttherapie lautet: Wer die Gegenwart im Auge hat, ohne durch die Vergangenheit oder Zukunft abgelenkt zu sein, und sein Handeln in sinnvollen Einheiten Gestalten auf die Aktualität bezieht, handelt gut und richtig. Jedes Handeln hat ein Ziel. Dieses Ziel ist endlich, also fähig zur Gestaltbildung, da sonst keine Motivation vorläge, überhaupt mit dem Handeln anzufangen. Die so genannten ziellosen Handlungen sind auf Hemmungen zurückzuführen, die entweder die Zieldefinition ins Unbewusste verlagern oder den Verstand bei der Festlegung adäquater Schritte auf das Ziel behindern. Das Handeln macht eine Möglichkeit, die im Handelnden und dem Behandelten liegt, zur Wirklichkeit; thomistisch gesagt, es verwandelt Potenz in Akt. Wenn es eine Möglichkeit ist, muss das Handlungsziel beidem angemessen sein, dem Handelnden und seinem Gegenstand. Formal gesehen ist das Ziel eine Bewegung oder Veränderung, die von dem Handelnden als Verbesserung eingestuft wird. In diesem Sinne ist das Ziel jeder Handlung gut. Das Schlechte oder Schädliche dagegen bewegt oder verwirklicht nichts. Es ist Ergebnis einer Handlung, die ein Gut nicht erreicht oder durch die Erreichung eines Gutes ein anderes Gut zerstört. An diese Einsicht knüpft sich die aufklärerische Hoffnung der Gestalttherapie: Solange sich etwas bewegt, ist das Gute nicht gänzlich aufgezehrt, kann es gegen das Schlechte, den Mangel an Kraft zum Hier-und-Jetzt, mobilisiert werden. Dieses so im Sinne der Gestalttherapie definierte Gute ist keineswegs als Garantie für Harmonie misszuverstehen. Bereits die Güter der Handlungen ein und desselben Individuums fügen sich kaum zu einem konfliktfreien Zusammenhang; schon gar nicht geht dies zwischen verschiedenen Handelnden. In Theorie und Methode der Gestalttherapie drückt sich diese Einsicht darin aus, dass auch und gerade in der guten Situation die Aggression ihren berechtigten Platz habe Aggression verstanden als heftiger (sich auch körperlich ausdrückender) Abwehr- und Durchsetzungswille. Die Einsicht, dass Therapie nicht isoliert für sich steht, sondern sowohl gesellschaftliche und politische als auch ethische und philosophische Dimensionen hat, führt zu zwei wesentlichen Kennzeichen der Gestalttherapie: Selbstreflektion. Die Gestalttherapie ist die Psychotherapie, deren unausweichlicher Bestandteil das Nachdenken über die sozialhistorische Verursachung sowohl der Leiden, die nach Therapie verlangen, als auch des dazugehörigen Berufsstandes ist. Die Gründer anderer psychotherapeutischer Richtungen behandelten ihre jeweiligen wissenschaftlichen Erkenntnisse als seien es Entdeckungen ewiger Konstanten wie das Gravitationsgesetz. Moderne Psychotherapien ignorieren hartnäckig soziologische Einsichten und reagieren auf die gegebenen Klienten als seien sie Exemplare der unwandelbaren Spezies Mensch. Die Gestalttherapie fragt demgegenüber danach, welche sozialen Zusammenhänge den Leidensdruck erzeugen, der einen Menschen zum Klienten werden lässt, sowie die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen Therapeuten als Berufsstand hervorgebracht werden. Durch diese Analyse konfrontiert sich die Gestalttherapie mit einem »therapeutischen Paradox«: Klienten kommen zum Therapeuten, um unter den herrschenden sozialen Bedingungen weniger leiden zu müssen und besser »funktionieren« zu können; der Therapeut darf Heilung letztlich jedoch nur durch eine Veränderung der Bedingungen versprechen, die nicht ohne weiteres herbeigeführt werden kann. Leichter therapiert es sich natürlich ohne Einsicht in das Paradox. Naivität allerdings lässt den Therapeuten zum passiven Spielball der Verhältnisse werden. Nur Selbstreflektion verleiht die Kraft, angemessen zu handeln. Selbstbeschränkung. Aus der Selbstreflektion folgt das spezielle gestalttherapeutische Konzept der Selbstbeschränkung. In der Therapie kann es nicht darum gehen, einen »natürlicherweise« unmündigen Klienten zur Mündigkeit zu führen. Vielmehr muss die Therapie die sozialen Bedingungen bekämpfen, die das natürliche Mündig-Sein oder Mündig-Werden des Klienten verhindern (oder verhindert haben). Der Therapeut ist nach gestalttherapeutischer Ansicht nicht dazu da, das Leben des Klienten »in Ordnung zu bringen«, ihm etwas aufzuzwingen, ihm zu sagen, was gut und richtig ist. Er selbst soll in das Leben des Klienten so wenig wie möglich eingreifen. Siehe auch: Achtung; Demut; Empathie; Wohlwollen, Würdigung © Stefan Blankertz und Erhard Doubrawa, Lexikon der Gestalttherapie, gikPRESS, Köln/Kassel 2017
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