![]() ![]()
|
|
|
Stichwort: Gestaltpsychologie Leseprobe in
voller Länge aus dem Etymologie: »Gestalt« ist das substantivierte 2. Partizip von »stellen« (mittelhochdeutsche Bildung). – »Psychologie« siehe dort. Lehre: Die Gestaltpsychologie, Gestalttheorie, Ganzheits-, Denk- oder Strukturpsychologie wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Max Wertheimer (1880-1943) begründet, wobei er sich auf eine Begriffsbildung von Christian von Ehrenfels (1859-1932) bezog, der 1890 den Aufsatz »Über Gestaltqualitäten« veröffentlicht hatte (siehe Stichwort Gestaltqualitäten). Die für die Gestalttherapie wichtigsten Vertreter der Gestaltpsychologie sind Wolfgang Köhler (1887-1969), Kurt Lewin (1890-1947) und Kurt Goldstein (1878-1965), alles Vertreter der sog. »(Frankfurt-)Berliner Schule« der Gestaltpsychologie, die in den 1930er Jahren aus Deutschland vor dem Faschismus in die USA fliehen mussten. Im Gegensatz zu der damals vorherrschenden Assoziationspychologie widmete sich die Gestaltpsychologie der Erforschung, wie der Mensch »Figuren«, »Ganzheiten«, »Felder« und »Sinneinheiten« wahrnimmt. Die Grundannahme lautete, dass der Wahrnehmungsapparat nicht mechanisch die Objekte der Umgebung abbildet und dem Gehirn zur Begutachtung vorlegt, sondern bereits strukuriert. Ein einfaches Beispiel sind Punkte, die auf einer imaginären Kreislinie angeordnet sind: Das Auge nimmt sie, wenn sie in hinreichender Dichte vorliegen, bereits als Kreis wahr. Die ersten Anstrengungen der Gestaltpsychologen gingen dahin, diese Grundannahme experimentell nachzuweisen. Kurt Goldstein hat sich als Neurologe auch um den gehirnphysiologischen Nachweis für die Richtigkeit der gestaltpsychologischen Hypothesen bemüht. Die Gestaltpsychologie war dabei so erfolgreich, dass sie in ihrer wahrnehmungstheoretischen Dimension ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als allgemeingültig in der Psychologie anerkannt wurde. Die am Beispiel der Wahrnehmung gewonnenen Grundlagen wurden von den Gestaltpsychologen jedoch auch auf alle anderen Bereiche der Psychologie übertragen. Kurt Lewin etwa hat sie mit der Feldtheorie zu einer Sozialpsychologie ausgebaut. Trotz einer heute weit verbreiteten positiven Bezugnahme auf den begriff »Ganzheit« hat sich diese Dimension der Gestaltpsychologie weit weniger durchgesetzt. Neben dieser »Berliner Schule« der Gestaltpsychologie gab es eine »Österreichische« oder »Grazer Schule« (Alexius Meinong, Christian von Ehrenfels, Vittorio Benussi). Sie ging nicht wie die Berliner davon aus, dass die Gestalt etwas dem Objekt oder der Natur anhaftendes sei, sondern vom Wahrnehmenden dem Objekt beigelegt werde (gleichsam Projektion als Normalzustand). Dies wird »Produktionsqualität der Gestalt« genannt (dergegenüber die Berliner die »Systemqualität der Gestalt« betonten). Die »Würzburger Schule« der Gestaltpsychologie (Oswald Külpers, Narziß Ach, Karl Bühler, Karl Marbe) untersuchte besonders die Denkvorgänge und setzte als Methode weniger das naturwissenschaftliche Experiment als vielmehr die Introspektion (Selbstbeobachtung) ein. Die »Leipziger Schule« der Gestaltpsychologie (Wilhelm Wundt, Felix Krueger, Friedrich Sander) bezog Emotionen und Willen in die Betrachtung stärker ein. Sie ging davon aus, dass die Gestalt sich nicht selbstreguliert ergebe, sondern eines ordnenden Einflusses von außen bedürfe. Diese Schule hat sich allerdings durch die Nähe zum Nationalsozialismus diskreditiert. Weder die Österreichische noch die Würzburger noch die Leipziger Schule der Gestaltpsychologie sind nach dem Zweiten Weltkrieg weitergeführt worden. Heutige Bezugnahmen auf die Gestaltpsychologie gehen fast ausschließlich von der Berliner Schule aus. Allerdings passt die gegenwärtige »konstruktivistische« Vorstellung, der Wahrnehmende würde die Welt gleichsam konstruieren, ganz gut auf die Position der Österreichischen Schule. Die Anknüpfung der Gestalttherapie an die »Berliner« Gestaltpsychologie ist auch keineswegs so nahtlos, wie der Name vermuten lässt. Keiner der Begründer der Gestalttherapie war ein Gestaltpsychologe im engeren Sinne (zur Schülerschaft vgl. die Zitate von Laura Perls und Elliot Shapiro unten; eigenartigerweise erwähnt Laura Perls nicht, dass sie bei dem Gestaltpsychologen Adhemar Gelb promoviert hatte!). Fritz Perls hatte seine therapeutischen Innovationen ursprünglich, nämlich 1944, »Konzentrations-Therapie« genannt. Als der Kreis um ihn in den End-1940er Jahren nach einem griffigen Wort für die neue Therapierichtung suchte, war auch »existenzielle Therapie« im Gespräch, aber Paul Goodman legte der mündlichen Überlieferung zufolge sein Veto ein, weil ihm der Existenzialismus zu »nihilistisch« war. Von den Gestaltpsychologen verwahrte sich besonders Wolfgang Köhler ausdrücklich gegen die Inanspruchnahme durch die neu gebackenen Gestalttherapeuten. Kurt Goldstein war freundlicher gesonnen und hat in den 1960er Jahren sogar die »humanistische Psychologie« mitgetragen. Allerdings ist der Name »Gestalttherapie« gleichwohl nicht falsch oder auch nur schlecht gewählt. Denn in der Tat stehen im Zentrum der Gestalttherapie die Wahrnehmungen bzw. die Verzerrungen, denen sie aufgrund psychischer Probleme unterliegen. Wenn man vereinfacht sagen wollte, dass die Gestaltpsychologie darstellt, wie der menschliche Wahrnehmungsapparat Gestalten richtig bildet, beschäftigt sich die Gestalttherapie mit der Situation, dass ein Mensch Gestalten nicht richtig bilden kann (und zwar nicht aufgrund physiologischer Gegebenheiten wie z.B. Blindheit o.ä.). Wesentliche Begriffe der Gestalttherapie wie »Gestaltbildung« bzw. »-schließung« (»Vollendung einer starken Gestalt«), »Prägnanz einer Figur« (im Figur/Grund-Prozess), »von innen her bestimmte Gestalt«, »organismische« (Kurt Goldstein) oder auch »spontane« (Wolfgang Köhler) Selbstregulierung, Organismus/Umwelt-Feld usw. verweisen auf das Erbe der Gestaltpsychologie. Laura Perls: »Die Arbeit von Kurt Goldstein hat die Gestaltpsychologie zu einem ganzheitlichen organismischen Ansatz gemacht. Fritz hatte mit Goldstein gearbeitet und ich auch. Fritz war einige Monate sein Assistent, und ich war seine Schülerin für ein paar Jahre. Ich arbeitete sehr experimentell am Institut für Veteranen mit Kopfverletzungen« (1977, in: A. u. E. Doubrawa [Hg.], Erzählte Geschichte der Gestalttherapie, S. 26). Elliott Shapiro: »Ich habe mich immer für die Gestaltpsychologie interessiert, weil sie eine Theorie der Geschlossenheit hat, die in gewissem Sinne den kreativen Sprüngen entspricht, die ich erwähnt habe – dass der Verstand kreative Sprünge macht. Wenn es genug Elemente gibt, sieht man sie plötzlich als eine Ganzheit, die man vorher nicht erkennen konnte. Aber die ist nicht ganz ein kreativer Sprung zu einer, sagen wir, neuen Einheit. Man ›springt‹ zur Geschlossenheit, wenn das neue Element oder die neuen Elemente es einem erlauben, eine kreative Schlussfolgerung zu ziehen oder zu erreichen. Der ›stufige‹ Sprung dagegen geschieht erst in dem Moment, in welchem man zu ihm ansetzt. Er kann nicht vorhergesagt werden. […] Ich hatte die Gestalttherapie im Gefühl, im philosophischen Gefühl. An der ›New School‹ hatte ich beispielsweise bei [Max] Wertheimer studiert. Ein wunderbarer Mann. Solomon Asch war in den Seminaren als gleichsam zweite Autorität anwesend. Ich weiß nicht, ob Sie mit dem Namen noch etwas anfangen können, aber er war damals ein berühmter Vertreter der Gestaltpsychologie (1985, in: Anke und Erhard Doubrawa [Hg.], Erzählte Geschichte der Gestalttherapie, Wuppertal 2003, S. 117f). E. u. M. Polster: »Die Gestaltpsychologen untersuchten die Dynamik des Wahrnehmungsvorgangs und stellten die Theorie auf, dass der Wahrnehmende nicht nur passives Ziel des sensorischen Bombardements durch seine Umwelt ist, sondern dass er vielmehr seine eigene Wahrnehmung strukturiert und ordnet. Im Wesentlichen organisiert er die Wahrnehmung der einströmenden sensorischen Eindrücke zur primären Erfahrung einer Figur, wie sie vor einem Hintergrund oder Grund gesehen oder wahrgenommen wird. Die Figur mag eine Melodie sein, die deutlich aus einem harmonischen Hintergrund herauszuhören ist, oder ein visuelles Muster, das sich als kohärente Einheit gegen eine Gruppe von nicht dazugehörigen Linien abhebt. Eine Figur, ob sie nun einfach wahrnehmbar oder von einer größeren Komplexität ist, zeichnet sich auf dem Grund nach der Art eines Flachreliefs ab, rückt in eine Position vor, die Aufmerksamkeit erfordert und ihre Qualitäten der Begrenztheit und Klarheit hervorhebt. Die Figur erscheint in allen Details und fordert eine genaue Untersuchung, die Konzentration, ja sogar die Faszination des Betrachters. Ein anderes wichtiges Charakteristikum der Wahrnehmung ist die Neigung des Individuums zur Vervollständigung. Eine Figur wird als vollständiges, abgegrenztes Bild gesehen – in manchen Fällen füllt der Betrachter sogar fehlende Details aus, beispielsweise indem er diese einzelnen Punkte als Kreis sieht. Dieser Drang nach Vervollständigung empirischer Einheiten ist mehr als nur ein Wahrnehmungsreflex, er ist auch ein sehr starker persönlicher Reflex, der häufig durch die sozialen Lebensumstände vereitelt wird, die die Menschen daran hindern, ihren Neigungen und Interessen konsequent nachzugehen. Diese unvollendeten Handlungen werden in den Hintergrund gedrängt, wo sie ein unbehagliches Gefühl verursachen und im Allgemeinen das Individuum von den Aufgaben ablenken, mit denen es gerade beschäftigt ist. […] Der Grund hat im Gegensatz dazu keine solche Anziehungskraft. Er ist unbegrenzt und formlos und seine Hauptfunktion besteht darin, einen Zusammenhang herzustellen, der der Figur Perspektive verleiht, selbst aber wenig Interesse besitzt. Die Stärke des Grundes liegt in seiner Ergiebigkeit. Im Idealfall ist die Trennung der Erfahrung in Figur und Grund nur vorübergehend, manchmal sogar momentan, und der Grund ist Quelle für ständig neue figürliche Formationen. Man braucht nur aus dem Fenster zu blicken, um festzustellen, wie frei die Aufmerksamkeit von einem Teil des Panoramas zu einem anderen überwechseln kann. Zuerst erregt ein gerade knospender Baum die Aufmerksamkeit. Dann erhebt sich plötzlich ein Vogel von einem Ast, und man verfolgt seinen Flug gegen den Himmel. Eine ungewöhnliche Wolkenformation lenkt den Blick vom Vogel ab und löst eine ganze Kette von Assoziationen aus. Ein Lieferwagen fährt vor. Jetzt sieht man weder die Wolken noch den Vogel, sondern hört das Krachen der Gänge und das Scheppern der Flaschen. Man beobachtet, wie der Fahrer mit einem Drahtkorb voll Milch, Käse und Eiern zum Nachbarhaus geht. So sieht der ungehinderte Fluß der Erfahrung aus. Das Figürliche kann jeden Augenblick in den Hintergrund treten, um von einem Detail aus dem Hintergrund ersetzt zu werden. Dies ist jedoch nur ein Teilaspekt. Untersuchungen über den Einfluss der Motivation auf die Wahrnehmung haben gezeigt, dass der Wahrnehmende nicht nur das, was er wahrnimmt, in ökonomische Erfahrungseinheiten strukturiert, sondern auch das, was er hört und sieht, korrigiert und zensiert, indem er selektiv seine Wahrnehmung mit seinen inneren Bedürfnissen abstimmt. Ein Mensch, der Hunger hat, neigt beispielsweise eher dazu, einen mehrdeutigen Stimulus als Nahrung wahrzunehmen. So wird die innere Erfahrung von der gegenwärtigen Erfahrung gefärbt und bestimmt. Wie ein hungriger Mensch Nahrung wahrnimmt, selbst wenn gar keine vorhanden ist, so fährt der unbefriedigte Mensch neben seinen gegenwärtigen Aktivitäten fort, unerledigte Geschäfte aus der Vergangenheit zu bearbeiten. Was hier als Figur oder Grund bezeichnet wird, ist mehr als die einfachen Wahrnehmungsvorgänge, von denen die frühen Gestaltpsychologen sprachen. Von diesen grundlegenden Aspekten ausgehend, kommt man zu der Erkenntnis, dass sämtliche menschlichen Belange organisatorische Bedürfnisse reflektieren, die von Natur ganzheitlich sind. Das ganze Leben eines Menschen liefert in gewisser Hinsicht den Hintergrund für den gegenwärtigen Augenblick – selbst wenn viele spezifische Ereignisse in diesem Hintergrund wie eine einzelne Blase im kochenden Wasser in der Masse untergehen« (Erving und Miriam Polster, Gestalttherapie, 1974, S. 41ff). Edward Smith: »Die Gestalttherapie [wäre] auch im akademischen Rahmen ernster genommen worden, wäre die Verbindung zur Gestaltpsychologie mehr herausgestellt und entwickelt worden. Ganz sicher gibt es eine historische Verbindung, die [Fritz] Perls in ›In and Out the Garbage Pail‹ klar gemacht hat. Er spricht zum Beispiel über seinen Kontakt mit Kurt Goldstein, einem der frühen Theoretiker der organismischen Sichtweise. Die organismischen Theoretiker waren in Gestaltpsychologie geschulte Leute, die die Gestaltpsychologie auf die Persönlichkeitstheorie anwendeten. Fritz hatte auch einige andere Gestaltpsychologen gelesen. Er widmete die erste Ausgabe von ›Ego, Hunger, and Aggression‹ Max Wertheimer. Die Gestaltpsychologie ist in die Standardtheorie der Psychologie aufgenommen worden und wird heute nicht mehr als separate Strömung identifiziert, ausgenommen in historischen und systematischen Seminaren. Manche Aspekte sind sogar sehr gut aufgenommen worden, besonders bezüglich der Wahrnehmung, des Studiums der sinnlichen Wahrnehmung« (in: Harman [Hg.], Werkstattgespräche Gestalttherapie, 1990, S. 16). Garry Yontef: »Wir verdanken der Gestaltpsychologie viel. Ich denke, es ist falsch, das, was wir ihr verdanken, auf die Worte ›Figur und Grund‹ zu beschränken, ohne die dahinter stehende Philosophie in Betracht zu ziehen. Wie du weißt, haben wir die Worte ›Figur und Grund‹ von der Gestaltpsychologie. Aber wenn das alles wäre, wäre es nicht der Rede wert. Zu sagen, etwas sei hervorgehoben oder etwas anderes trete zurück, kommt auf das gleiche raus [wie von Figur und Grund zu sprechen], es sei denn, da steht ein größerer philosophischer Anspruch dahinter. Ich denke, was wir von der Gestaltpsychologie haben, ist ein Begriff einer Feldtheorie, der, neben dem, was ich über Werden und Sich-aufeinander-Beziehen gesagt habe, darauf achtet, wie die Teile sich zu einem Ganzen fügen. Es geht nicht um die Teile allein, nicht um einen vagen Begriff der Ganzheit, sondern darum, dass die Teile und das Ganze sich zu etwas zusammenfügen, das die Teile und das Ganze systematisch in Beziehung zu einander setzt. Wir machen bei der Gestaltpsychologie auch Anleihen hinsichtlich eines Konzepts der Einsicht, das nicht psychoanalytisch ist, sondern auf die Erkenntnis der Gestaltbildung – wie die Teile und das Ganze sich zusammenfügen. Dieser philosophische Aspekt der Gestaltpsychologie ist etwas, mit dem die amerikanischen Psychologen scheints die größten Schwierigkeiten haben. Sie können nicht mit Theorie umgehen. Köhler und Kofka mussten auf der konkreten Ebene bleiben, um in Amerika verstanden zu werden« (in: Harman [Hg.], Werkstattgespräche Gestalttherapie, 1990, S. 86). Literatur: Fitzek, Herbert / Salber, Wilhelm, Gestaltpsychologie, Darmstadt 1996; Portele, Heik, Gestaltpsychologische Wurzeln der Gestalttherapie, in: Fuhr u.a. (Hg.), Handbuch der Gestalttherapie, Göttingen 2001. Siehe auch: Assoziationspsychologie; Existenzialismus; existenzielle Therapie; Feldtheorie; Figur/Grund-Prozess; Gestaltqualitäten; Goodman, Paul; Organismus/Umwelt-Feld; Perls, Fritz; Phänomenologie; Selbstregulierung; Wahrnehmung © Stefan Blankertz und Erhard Doubrawa, Lexikon der Gestalttherapie, gikPRESS, Köln/Kassel 2017
[Impressum] [Datenschutz]
|
![]()
![]()
|