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Stichwort: Neurose Leseprobe in
voller Länge aus dem Lexikalisch: Der Begriff wurde von dem englischen Arzt William Cullen im achtzehnten Jahrhundert aus dem griechischen »neuro« (Nerv) geprägt für die Bezeichnung aller nichtentzündlichen Nervenkrankheiten. Durch Sigmund Freud bekam er die heutige Form und meint seelisch bedingte Störungen ohne organische Ursache. Eine genauere Abgrenzung des Bedeutungsumfanges und insbesondere eine schlüssige Abgrenzung zur Psychose hat sich bis heute nicht allgemein anerkannt durchgesetzt. Bedeutung für die Gestalttherapie: Die Neurose ist nach gestalttherapeutischer Ansicht die gesunde und sinnvolle Antwort des Einzelnen auf irrationale und »kranke« gesellschaftliche Zustände. Angst, bereits nach psychoanalytischer Auffassung der Hauptfaktor bei der Neurosenbildung, entsteht, weil der Impuls zur kreativen Anpassung unterbrochen wird. Dies geschieht auf die geschilderte Weise durch Unterdrückung der Aggressivität. Das typische Bild eines Neurotikers ist es nach gestalttherapeutischer Auffassung, dass er zunächst seine Wahrnehmung von sich und seiner Umwelt und schließlich sogar sein Verständnis für sich und seine Umwelt reduziert. Gleichwohl spannt er seinen Willen und seine Muskeln stark an, als ob er sich anschicken würde, seine Bedürfnisse zu befriedigen. In der gegebenen Situation der chronischen Angst ist dies tatsächlich hilfreich. Die neurotische Erfahrung reguliert sich durchaus selbst. Da die extreme Willensanstrengung auf der chronischen Angst basiert, kann man von einer »neurotischen Gesellschaft« sprechen. Aber der Neurotiker tendiert spontan zur Anspannung und dies auch dort, wo er sich eigentlich gefahrlos entspannen könnte. Dies lässt sich mit gestalttherapeutischer Hilfe allerdings bearbeiten. Immerhin führt die Selbstregulation des Neurotikers ihn zum Therapeuten. Die Neurose ist nicht in einem aktuellen inneren oder äußeren Konflikt begründet. Derartige Konflikte – Konflikte zwischen den Bedürfnissen, Konflikte zwischen sozialen Ansprüchen und körperlichen Bedürfnissen, Konflikte zwischen persönlichen Zielen (z.B. Ehrgeiz) einerseits und sozialen Ansprüchen und körperlichen Bedürfnissen andererseits – können durch das Selbst integriert werden. Vielmehr besteht die Neurose in der vorzeitigen Befriedung der Konflikte durch die gesellschaftliche Ächtung und Unterdrückung der individuellen Aggressivität – der Möglichkeit, sich im Konflikt die Umwelt anzupassen, anstatt der Umwelt angepasst zu werden. Das erzeugt die chronische Angst, die zur Neurose führt. Nicht die Angst vor oder in einem Konflikt ist problematisch (sie ist vielmehr eine gesunde Reaktion in einem gesunden Kontext), sondern der ständig vorzeitig abgebrochene Konflikt produziert problematische Angst – nicht eine »große« Angst, sondern eine dauernde kleine Spannung: die Angst, in eine Situation verwickelt zu werden, in der ein Konflikt unausweichlich oder eigentlich nützlich wäre, aber nicht ausgetragen wird, und die Angst, dass die vielen unausgetragenen Konflikte zu Tage treten könnten. Die Neurose ist dadurch gekennzeichnet, dass eine flexible Funktion des Selbst – nämlich die richtige Antwort auf Gefahr und Angst – zu einer starren Gewohnheit wird: Der Organismus verhält sich habituell, unveränderlich und ohne weitere Prüfung der Notwendigkeit so, als herrsche ununterbrochen Gefahr. In der Gestalttherapie sprechen wir von dem »Verlust der Funktion des Selbst«: Die Neurose ist einerseits eine Überanstrengung der Willenskraft, ausgedrückt in Muskelverspannung. Der »Wille« jedoch ist andererseits unzweifelhaft eine Funktion des Selbst. Trotzdem bedeutet die Neurose einen Verlust der Funktion des Selbst und ein Abgleiten von Verhalten in die durch den Willen nicht kontrollierten Bereiche. Im Selbst müssen sich nämlich Wille und Vernunft entsprechen. Willensüberanstrengung liegt vor, wenn das, was gewollt ist, nicht an die Vernunft gekoppelt wird. Dann wird das, was den Sinnen als Wille erscheint (Muskelspannung) unwillkürlich, weil es beliebig ist. Die Bewegung hat die Form des Willens, jedoch nicht den Inhalt. Der Inhalt des Willens stammt nun nicht aus der Vernunft selbst, sondern er wird von ihr nur »vermittelt«: Die Vernunft interpretiert die Bedürfnisse, die Möglichkeiten ihrer Befriedigung und setzt entsprechende Schritte zur Bedürfnisbefriedigung fest. Die Neurose ist also eine »vernünftige« Antwort, während die Vernunft gleichzeitig aber in der Neurose abdankt und den Willen unwillkürlich macht. In diesem doppelten Paradox liegt der Kern der gegenwärtigen Schwierigkeiten: In einer Welt, die individuelle Bedürfnisbefriedigung weitgehend verhindert (alle Bedürfnisse werden entweder kollektiv befriedigt oder ihre Befriedigung wird abgelehnt), ist es »vernünftig«, auf seine Vernunft zu verzichten und anstelle eines zielgerichteten Willens eine unwillkürliche Willensanspannung zu setzen. Siehe auch: Aggression; Angst; Krankheit; Phänomenologie, Phasen der Therapie; Selbst; Selbstregulierung; Würdigung Neurose-Ebenen, -Schichten Siehe Therapie-Phasen © Stefan Blankertz und Erhard Doubrawa, Lexikon der Gestalttherapie, gikPRESS, Köln/Kassel 2017
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