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Stichwort: Wirklichkeit Leseprobe in
voller Länge aus dem Etymologie: Der Begriff ist von dem deutschen Mystiker Meister Eckhardt zu Beginn des 14. Jahrhunderts geprägt worden. Er soll die Starre und Passivität des Wahrheitsbegriffs überwinden und das Prozesshafte des Zur-Wahrheit-Bringens durch Wirken, durch tätiges Handeln betonen. Allerdings ist dies kein gedanklicher Bruch zur philosophischen Tradition, denn in Aristoteles’ Konzeption der Wechselbeziehung zwischen Potenzialität (Möglichkeit) und Aktualität (Wirklichkeit) ist der Gedanke schon enthalten, wenn er auch noch kein so prägnantes Wort für den Prozess hatte. Verwendung in der Gestalttherapie: Fritz Perls und Paul Goodman verwenden nicht Wahrheit (also »truth«) sondern stets Wirklichkeit (also »reality«) und beziehen diese auf die Gegenwärtigkeit (Aktualität) der Wahrnehmung, des Fühlens, Erlebens, Bewegens und Handelns. Daraus lässt sich jedoch nicht ableiten, dass die Gestalttherapie einem »Relativismus« oder »Subjektivismus« verfällt, der die Wirklichkeit, Wahrheit oder Realität in Abrede stellt. Enttäuschung über die Unfähigkeit, durch den vernünftigen Dialog zu einem Konsens zu gelangen, esoterische Einflüsse und »postmoderne« Vernunftkritik werden heute bisweilen in solche Sätze verdichtet wie »Es gibt keine Wahrheit« oder »Jeder hat seine eigene Wirklichkeit«. Der Satz »Es gibt keine Wahrheit« ist jedoch ein ausgesprochener Selbstwiderspruch: Auch wenn er wahr wäre, wäre er falsch, denn dann gäbe es ja zumindest die Wahrheit, dass es sie nicht gäbe. Unser Sprechen nimmt genau genommen bloß in Bezug zur Wahrheit Gestalt an; alles andere wäre nichts als eine Geräuschproduktion mit dem Mund. Während also die Behauptung, es gäbe keine Wahrheit, einfach einen logischen Fehler enthält, deutet der Satz, jeder habe seine eigene Wirklichkeit, gestalttherapeutisch gesehen ein schwerwiegendes psychologisches Problem an. So macht die Stärkung von Wahrnehmung und Felderfahrung nur dann Sinn, wenn es eine Wirklichkeit außerhalb des Subjektes gibt, die wahrnehmbar, erfahrbar, erlebbar und auch mitteilbar ist. Projektion als Begriff hat ebenfalls nur eine Bedeutung, insofern Wahrnehmung subjektiv verzerrt sein, aber auch (z.B. durch Therapie) berichtigt werden kann. Hätte jeder seine eigene Wirklichkeit oder Wahrheit, gäbe es nichts außer Projektion. Das wiederum wäre auch ein logischer Selbstwiderspruch, denn wenn es nichts als Projektion gäbe, gäbe es nichts, auf das projiziert werden könnte. Fritz Perls’ Bezug auf Salomo Friedlaender und Paul Goodmans auf Immanuel Kant zeigen deutlich, dass Gestalttherapie nicht als Auflösung des Wahrheits- oder Wirklichkeitsbegriffs gedacht ist. Siehe auch: Aristoteles; Feldtheorie; Friedlaender, Salomo; Kant; Projektion; Wahrnehmung © Stefan Blankertz und Erhard Doubrawa, Lexikon der Gestalttherapie, gikPRESS, Köln/Kassel 2017
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