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Stichwort: Feldtheorie Leseprobe in
voller Länge aus dem Begriffsgeschichte: In der Naturwissenschaft wurde der Feldbegriff im 19. Jahrhundert zunächst entwickelt, um unmittelbare Fernwirkungen von Kräften zu beschreiben. Michael Faradays (1791-1867) Elektrodynamik benutzt den Feldbegriff dann auch, um Nahwirkungen zu beschreiben, bei denen eine Kraft nicht linear auf ein Objekt wirkt, sondern in einer räumlichen und zeitlichen Ausdehnung verschiedene Objekte betreffen kann. Ein einfaches Beispiel ist ein magnetisches Feld. Analog zum physikalischen Feld haben die Gestaltpsychologen (Max Wertheimer, Wolfgang Köhler) von Wahrnehmungsfeldern gesprochen. Der Gestaltpsychologe Kurt Lewin hat den Feldbegriff auf die soziale Sphäre, auf den Lebensraum übertragen. Das Handeln des Individuums spielt sich in einem raum-zeitlichen Feld ab. Alle Handlungen in diesem Feld stehen in einer Beziehung der Wechselwirkung zueinander. Feld- vs. Systemtheorie: Meist werden die Feld- und Systemtheorie in einem Atemzug genannt, manchmal die Feldtheorie auch als »Vorläufer« der Systemtheorie bezeichnet. Sicherlich gibt es eine große Gemeinsamkeit, die besonders durch den Begriff der »Wirkung des Feldes« unterstrichen wird, den die systemische Therapie gebraucht. Allerdings muss beachtet werden, dass die beiden Ansätze einen je eigenen Fokus setzen. Die Feldtheorie betrachtet Wirkungszusammenhänge, die Systemtheorie dagegen Funktions- und Strukturzusammenhänge. Das beginnt auf naturwissenschaftlicher Ebene: Die Beziehung des Magneten zu seiner Umgebung, die angezogen oder abgestoßen wird, begründet ein (Wirkungs-)Feld, die Jäger-Opfer-Beziehung in einem Ökotop dagegen einen funktionalen (Steuerungs-)Zusammenhang. In der Psychologie bedeutet der Unterschied, dass die feldtheoretische Betrachtung eher mit dem Wie des Miteinanders beschäftigt ist, die Systemtheorie eher mit den Funktionen, die das Miteinander aufrecht erhalten, stabilisieren oder verändern. Die Feldtheorie ist insgesamt eher mit dem holistischen oder ganzheitlichen Denkansatz verbunden. Zwischen der Feld- und Systemtheorie allerdings einen unüberwindlichen Gegensatz aufbauen zu wollen, der es nötig macht, sich für eine der beiden Betrachtungsweisen zu entscheiden, geht sehr weit. Peter Philippson warf 1996 Erving Polster vor, einen systemtheoretischen Ansatz zu verfolgen und damit die gemeinsame feldtheoretische Basis der Gestalttherapie zu verlassen. In seiner Antwort (1997) erklärte Erving Polster, dass beide Ansätze seiner Meinung nach kompatibel miteinander seien und sich ergänzen sollten. Kritisch zur Feldtheorie merkte er jedoch an, dass der von ihr behauptete Vorrang der »Ganzheit« und des »Wir« nur begrenzt in der Lage ist, die Komplexität des Daseins zu beschreiben, in der auch Gegensätze, Getrenntheiten und Individualitäten eine Rolle spielen. Bedeutung für die Gestalttherapie: Wichtig für die Gestalttherapie an der Feldmetapher ist, dass sie weder zur Betrachtung künstlich abgegrenzten Einheiten (der einzelne Mensch, die einzelne Familie, die einzelne Ethnie usw.) führt, noch dass Totalitäten oder Systeme geschaffen werden, die sich gegenüber den Einzelnen verselbstständigen (die Gesellschaft, der Staat, die Nation, die Geschichte usw.). Es hieße nämlich, über das Ziel hinauszuschießen, wenn man unter den Schlagworten des »einheitlichen Feldes« oder der »ungeteilten Existenz« (der Baum ist nicht ohne Erde, der Mensch nicht ohne Luft zu erkennen) meint, sich gar keinen speziellen Ereignissen, Objekten oder Menschen im Feld zuwenden zu können, weil dadurch zumindest sprachlich eine Trennung vom Feld unterstellt würde. Selbstverständlich ist es ein sinnvoller Figur/Grund-Prozess, sich den Aspekten im Feld zuzuwenden, die das Interesse erregen, und dabei andere Aspekte im Hintergrund zu belassen. Die Nase ist nur sinnvoll zu betrachten in einem Feld, in welchem sich Luft befindet. Aber wer »eins auf die Nase gekriegt« hat, interessiert sich eher für einen anderen Aspekt im Feld. Die Feldtheorie sollte auch nicht dazu herangezogen werden, beliebig Geschehnisse als Wirkungen »des Feldes« zu proklamieren, ohne einen echten Zusammenhang empirisch oder theoretisch herzustellen. Dies war auch nicht die Absicht Lewins, denn er war nicht esoterisch, sondern soziologisch-empirisch orientiert. Feldtheorie vs. Konzept der Kausalität: Die Feldtheorie führt zwar zu einem modifizierten Konzept der Kausalität, nicht aber dazu, dass die Kategorie Kausalität entfallen könnte. Sie bleibt, wie Immanuel Kant zeigte, unverbrüchlicher Bestandteil des Denkens. Das Feld wird bestimmt von der Wechselwirkung aktueller Ursachen und ist darum sehr komplex. Gleichwohl bleiben zwei Aspekte festzuhalten: 1. Die Ursache kann zeitlich nicht nach der Wirkung erfolgen. (Jemand, der das behauptet, würde in Erklärungsnot geraten, wenn ein Klient zu ihnen käme und im Erstgespräch sagte: »Meine Probleme sind Wirkungen Ihrer verfehlten Therapie, die Sie mir demnächst angedeihen lassen werden.«) 2. Jedes Handeln wird mit der Hoffnung auf eine Wirkung begonnen. (Der Klient würde wohl nicht zu dem Therapeuten zurückkehren, der ihm im Erstgespräch eröffnet: »Es widerspricht meinem Ansatz, von irgendeiner wie auch immer gearteten Auswirkung der Therapie auszugehen.«) – Es ist übrigens auch eine beabsichtigte Wirkung, wenn eine Handlung nichts als »Spaß machen« soll. Frank-M. Staemmler: »Die psychologische Feldtheorie von Kurt Lewin (1963), die einen wichtigen historischen Hintergrund der Gestalttherapie darstellt, sehe ich als eine weitere wichtige Quelle für die Kultivierung der therapeutischen Unsicherheit. Lewin hat nachdrücklich gezeigt, wie abhängig das jeweilige Verhalten eines Menschen vom gesamten Feld, also der Summe aller gegebenen Einflüsse, ist. Zu einem solchen Feld gehört immer auch derjenige, der es beobachtet […]. Man muss nur einmal an den Gesichtsausdruck denken, den viele Menschen auf Fotos zeigen; er ist oft Ausdruck für die verkniffene Reaktion auf das Fotografiertwerden selbst und nicht unbedingt Ausdruck genereller Verkniffenheit der fotografierten Person. Das heißt für das Feld von KlientInnen in Therapien, dass ihr jeweiliges Verhalten nur zu verstehen ist, wenn man auch den Einfluss bzw. die Wirkung der TherapeutInnen berücksichtigt. Unsere KlientInnen verhalten sich uns gegenüber und in unserer Anwesenheit und in der Therapiesituation anders als unter anderen Umständen. Jede Diagnose, die ich mache, ist darum nur vollständig, wenn sie die Einflüsse einbezieht, unter denen sie zustandekommt, z.B. die Tatsachen, dass jemand anwesend ist, der diagnostiziert, wie der Diagnostizierende sich gegenüber dem zu Diagnostizierenden verhält, wie der eine den anderen sieht usw. Daraus folgt aber auch die Einsicht: Die Generalisierbarkeit der Diagnose hat Grenzen. Sie lässt sich nicht ohne Weiteres auf andere Situationen übertragen, in denen die/der Betreffende sich in einem anderen Feld befindet. Für jedes Feld gilt seine ›Singularität‹ und die jeweils gegenwärtige ›Zeitperspektive‹, um zwei weitere Begriffe von Lewin zu erwähnen, die hier wichtig sind. Jeden Eindruck, den ich von meinen KlientInnen gewinne, gewinne ich zu einem einmaligen Zeitpunkt, in einer nicht zu wiederholenden Situation und unter meinem speziellen Einfluss. Die hier maßgeblichen Faktoren sind so vielfältig, dass jede Unsicherheit, die in mir hinsichtlich der Allgemeingültigkeit meines Eindrucks aufkommt, nur als angemessener Reflex auf die Vielseitigkeit, Komplexität und – vor allem – auch die Veränderlichkeit des Feldes verstanden werden kann« (Frank-M. Staemmler, Kultivierte Unsicherheit, 1995, in: Doubrawa/Staemmler [Hg.], Heilende Beziehung, Wuppertal 2003, S. 151). Literatur: Lotte Hartmann-Kottek, Gestalttherapie, Berlin 2004; Heik Portele, Gestaltpsychologische Wurzeln, in: Fuhr u.a. (Hg.), Handbuch der Gestalttherapie, Göttingen 2001. Siehe auch: Gestaltpsychologie; Figur/Grund-Prozess; Organismus/ Umwelt-Feld; Pragmatismus; Systemtheorie; Wirklichkeit © Stefan Blankertz und Erhard Doubrawa, Lexikon der Gestalttherapie, gikPRESS, Köln/Kassel 2017
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