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Stichwort: Gegenwart Leseprobe in
voller Länge aus dem Etymologie: Das Wort setzt sich aus »gegen« (entgegenstehen) und »werden« zusammen. Ursprünglich bedeutete es die unmittlbare Anwesenheit des Gegners und die Konfrontation mit ihm, dann das Treffen mit ihm vor Gericht und bezeichnete später das sprachliche Präsens. Der Zusammenhang mit Gegnerschaft klingt noch heute in der Nebenform »widerwärtig« an. Bedeutung für die Gestalttherapie: Die Psychotherapie hatte mit Sigmund Freud eine besondere Orientierung in die Vergangenheit: In der Therapie sollten die Ursachen der psychischen Probleme aufgedeckt werden, die vermutlich weit zurück in der Kindheit liegen. Alfred Adler hatte dagegen die Zukunft betont, denn schließlich geht es in der Therapie darum, das weitere Leben zu meistern. Beiden hat die Gestalttherapie das Schlagwort vom »Hier-und-Jetzt« entgegengesetzt. Die Gegenwart ist nämlich der einzige Punkt, an dem Entscheidungen getroffen werden können. Nur im Jetzt hat der Mensch Einfluss auf sein Leben. Dies ist die Lehre, die die Gestalttherapie aus dem Existenzialismus gezogen hat. Die Menschen verharren in der Vergangenheit, z.B. »Wie schön war es früher« oder »Wenn damals das und das anders gelaufen wäre, wäre es jetzt nicht so übel«. Damit vermeiden sie es, in der Gegenwart handlungsfähig zu sein. Doch auch, wenn sie sich der Zukunft zuwenden, vermeiden sie es, jetzt zu handeln, z.B. »Dann und dann wird es besser«. Das Instrument, um den Gegenwartsbezug herzustellen, ist die präzise Wahrnehmung bzw. die Erhöhung des Gewahrseins. Wie die Entscheidung, so geschieht auch das Wahrnehmen immer nur in der Gegenwart. Die richtige Entscheidung ist zudem angewiesen auf die genaue Wahrnehmung. Nur der, der weiß, was um ihn herum und in ihm selbst los ist, hat die Informationen, auf deren Grundlage er die angemessene Richtung seiner Handlung bestimmen kann. Die Vergangenheit ist damit nicht unwichtig, denn sie gehört zu den Informationen, die notwendig sind. Sie bekommt aber eine neue Dimension: Die Vergangenheit ist wichtig, insofern sie jetzt deutlich erinnert wird. Zum besonderen Gegenstand der Therapie werden Erinnerungen, die in der Gegenwart intensiv wirken. Es handelt sich dann um nicht-geschlossene Gestalten. Die Vergangenheit ist lebendig, weil das Vergangene nach einer Handlung verlangt, die zu einem Abschluss führen kann. Besonders eindrucksvoll ist das Beispiel der Trauer. Nicht das vergangene Ereignis, das die Trauer ausgelöst hat, ist an sich bedeutsam, sondern die Tatsache, dass die Trauer (noch) nicht abgeschlossen werden konnte. Es geht darum, die Trauer zu betrachten und das, was daran hindert, sie abzuschließen, nicht das Ereignis an und für sich genommen. Die Frage lautet, was jetzt geschehen muss, um ein (gutes) Weiterleben zu ermöglichen. Ebenso wie die Vergangenheit, hat auch die Zukunft einen guten Sinn, solange sie auf die Gegenwart bezogen bleibt. Die Zukunft ist das Ziel, auf das hin unser planendes Handeln ausgelegt ist. Während die Vergangenheit unveränderbar ist, ist die Zukunft zu ungewiss, als dass sie durch unser Handeln erreicht werden kann. Sobald wir von der Gegenwart, dem Zeitpunkt unserer Handlungsmöglichkeit, in die Zukunft abschweifen, stehen wir hilflos vor den positiven oder negativen Erwartungen, die wir nicht beeinflussen können. E. u. M. Polster: »Die Vorbereitungen auf das eigentliche Leben, als was auch immer es sich herausstellen mag, werden demjenigen verlockend dargestellt, der Aktien auf eine glänzende Zukunft kauft. Für zukünftiges Glück bezahlt er damit, dass er gegenwärtige Gefühle verleugnet oder abtötet. […] Sehr schwierig zu lehren ist die Erkenntnis, dass die Gegenwart nur jetzt existiert; wenn man sich von ihr abwendet, lenkt man von der lebendigen Qualität der Realität ab. Da dies so offensichtlich scheint und in der so genannten dritten ›Generation‹ der Psychologie weitgehend akzeptiert ist, überrascht es doch immer wieder, dass die Betonung der Gegenwart, die von großer therapeutischer Bedeutung ist, von sehr vielen Psychologen so heftig abgelehnt wird. Zwei grundlegende Paradoxe verdunkeln die Dynamik der Gegenwart als die hervorragende Lebensgrundlage: Erstens betrachtet die Gestalttherapie die Vorgänge des Erinnerns und Planens als gegenwärtige Funktionen, obwohl sie sich auf Vergangenheit und Zukunft beziehen. Zweitens beschäftigen wir uns auch mit Fragen, die über die direkte interpersonale Konfrontation hinausgehen und sich auf viele wichtige Themen beziehen, wie z.B. Vietnam, Städteplanung, Freundschaft, Regierung, Rassismus usw. […] Der Schwerpunkt der Gestalttherapie liegt […] in der einfachen Gegenwart. Das heißt, die therapeutische Erfahrung – ob sie nun individuell oder in Gruppen gewonnen wurde – ist eine Übung im uneingeschränkten Leben im Jetzt, in der irgendwelche Sachthemen oder vergangene wie zukünftige Handlungen keine direkten Konsequenzen mehr haben. Da das Leben des Neurotikers grundsätzlich anachronistisch ist, bedeutet jede Rückkehr zum gegenwärtigen Erlebnis in sich selbst schon einen Angriff auf die Neurose« (Erving und Miriam Polster, Gestalttherapie [1975], Wuppertal 2001, S. 15ff). Erving Polster: »Fritz Perls war, wie andere auch, ungewöhnlich begabt darin, die Kraft vorzuführen, die in einer vereinfachten Erfahrung liegt, und seine Anhänger waren oft über die Tiefe der Erfahrungen erstaunt, die er sehr schnell induzieren konnte. In seinen frühen Theorien sprach Perls (1944) von der Gegenwart als ›einem sich ständig verschiebenden Nullpunkt zwischen den Gegensätzen von Vergangenheit und Zukunft‹ (S. 95), wobei er Vergangenheit und Zukunft immer noch als die Referenzpunkte für das Leben in der Gegenwart betrachtete. Obwohl er seine Meinung nie geändert hat, führte seine Neigung, etwas schnell und ohne Bewertung darzustellen – besonders vor einem großen professionellen Publikum – dazu, dass Dinge übermäßig vereinfacht wurden. Nachdem sie so zu Slogans gemacht werden konnten, wurde Perls (1966a) später dazu bewegt zu schreiben: ›[Ich habe] nur ein Ziel: einen Teil der Bedeutung des Wortes Jetzt deutlich zu machen. Für mich existiert nichts anderes außer dem Jetzt. Jetzt = Erfahrung = Gewahrsein = Realität. Das Vergangene ist nicht mehr, und die Zukunft ist noch nicht‹ (S. 89). Eine solch deutliche Gleichstellung zwischen dem Jetzt auf der einen Seite und Erfahrung, Gewahrsein und Realität auf der anderen Seite ist exzellente Sloganbildung, aber sie ist nur schwach zutreffend. Da die Gegenwart lediglich ein Punkt auf einem Zeitkontinuum ist, kann sie weder Erfahrung, noch Gewahrsein, noch Realität sein. Es gibt Ereignisse in der Zeit, nicht Zeit an sich, ebenso, wie ein Edelstein in einer Schachtel nicht die Schachtel sein kann. Eine Person hat auf der einen Seite die Wahl, die Traurigkeit über den Tod ihrer Mutter zu beschreiben, ohne sich um die Zeit zu kümmern; ihr geht es dabei nur um die Empfindungen, die Gedanken, die Absichten und Hoffnungen, die ihr bewusst werden. Andererseits könnte sie ihre Traurigkeit auch auf die Zeit beziehen, indem sie sagt, dass sie immer noch traurig über den Tod ihrer Mutter vor zwei Jahren ist oder, dass sie traurig ist, weil ihre Mutter bald sterben wird. Alle Details des Erlebens existieren entweder in der Zeitdimension oder in der Dimension des Raumes. Das Bewusstsein bleibt nicht an einem Ort und seine Freiheit, sich durch die Jahre zu bewegen, versteht sich von selbst. Viele meiner Gestaltkollegen würden schreien ›unfair‹, wenn ich Perls auf seine eigenen Slogans festnagle. Damit haben sie auch Recht. Es ist wahr, dass das Konzept des Hier-und-Jetzt trotz seiner simplifizierenden Obertöne von Anfang an umfassender war. Eine andere bedeutende Annahme, die auch dem Konzept des Dort-und-Dann Rechnung trägt, war die Voraussetzung, dass das Erinnern, die Vorstellung und Planung als valide Funktion der Gegenwart gesehen wurden. Diese Qualifizierung, auch wenn sie illusorische Konnotationen der Gegenwart unterstützt, geht über die Gegenwart hinaus und stellt die Dimension wieder her. Trotzdem hat sie das Schicksal vieler Qualifizierungen erleiden müssen; sie hat eine untergeordnete Rolle gespielt. Unglücklicherweise wurden die Vergangenheit und die Zukunft, obwohl sie von den meisten ernsthaften Schülern der Gestalttherapie berücksichtigt wurden, von den Praktizierenden und Laien, die nur auf oberflächliches Wissen aus waren, weitgehend außer Acht gelassen. Die Konsequenzen dieses Missverständnisses sind ein Element im gesamten kulturellen Bild, das die Auffassung populär gemacht hat, ›die Zukunft ist jetzt‹. Ein zu enger Fokus – mit einer hochkonzentrierten Betonung ausschließlich des Hier-und-Jetzt, wird vieles von Bedeutung ausschließen: die Kontinuität der Verpflichtung, die Implikationen der eigenen Handlungen, die Vorbereitung auf solche Komplexitäten, die der Vorbereitung bedürfen, Abhängigkeit, die Möglichkeit auf Anforderungen zu reagieren, denen die Menschen, mit Sicherheit ausgesetzt werden und so fort. Wenn diese Ansprüche, die das Leben stellt und denen nicht aus dem Weg gegangen werden kann, fortwährend durch an sich nur vorübergehend technische Zwecke verdrängt werden, dann ist die Entfremdung von großen Teilen der relevanten Gesellschaft eine Konsequenz, das Leben als ein Klischee ist eine andere« (Erving Polster, Flucht aus der Gegenwart: Übergang und Erzählweise, 1987, in: Erving und Miriam Polster, Das Herz der Gestalttherapie, Wuppertal 2002, S. 152f). Edward Smith: »Leben ist der gegenwärtige Moment. Der Gestaltansatz besteht dann darin, eine Erinnerung an einen vergangenen Moment oder eine Vorwegnahme eines zukünftigen Momentes zu vergegenwärtigen, sodass er im Jetzt erfahren werden kann. Was ist meine gegenwärtige Erfahrung mit der Erinnerung? Was ist meine gegenwärtige Erfahrung mit meiner Fantasie über die Zukunft? Ich lebe im Jetzt, da es unmöglich für mich ist, zurückzukehren und das, was ich letzten Abend gegessen habe, noch mal zu essen, oder das Frühstück von morgen jetzt zu essen. […] [Viele] Techniken im Gestaltansatz sind Techniken der Vergegenwärtigung. Das ist ein Wort, das ich zuerst bei Claudio Naranjo gefunden habe, in seinen Schriften. Vergegenwärtigung [presentification] heißt, etwas gegenwärtig zu machen. Das heißt, eine Erinnerung aus der Vergangenheit oder eine Fantasie der Zukunft zu nehmen und sie zu behandeln, als sei sie gegenwärtig. Sich vorzustellen, sie sei Gegenwart. Seine Sinne zu gebrauchen und sie jetzt in der Gegenwart zum Leben zu bringen. Konzentration und Vergegenwärtigung sind die beiden Kategorien der Techniken in Gestalt, oder zumindest der meisten. Beide Kategorien von Techniken stehen im Dienst, um eine Erfahrung im Hier und Jetzt zu schaffen. Die Hier-und-Jetzt-Erfahrung führt zum Wachstum. Wir gebrauchen die Techniken, um Klienten, die ›entsinnlicht‹ sind, zur sinnlichen Wahrnehmung zurückzuführen [resensitizing], und die Klienten zu mobilisieren, die ›abgestorben‹ sind, die bewegungsunfähig sind« (E. Smith, in: R. Harman, Werkstattgespräche Gestalttherapie, 1990, S. 15/37). Lois Brien: »Man ist ›in‹ seiner gegenwärtigen Erfahrung. Die Augen sind offen, man schaut nicht zurück oder nach vorn, sondern man bleibt bewusst in der eigenen Erfahrung, welche auch immer es momentan ist, und kann sie beschreiben. Das ist für mich Gewahrsein. Die meiste Zeit sind die Leute nicht zugegen in ihrer Existenz zu einem gegebenen Zeitpunkt. Sie befinden sich in dem, was ihrer Meinung nach ein wenig später ihre Existenz sein könnte, oder in ihren Erinnerungen an eine frühere Erfahrung, aber nicht in der Gegenwart. Nun, das soll nicht heißen, dass sie immer in der Gegenwart sein sollten. Aber wenn du in Kontakt mit der gegenwärtigen Erfahrung sein und herausfinden möchtest, was sie für dich bereit hält, was sie deinem Leben hinzufügen kann oder was für Neuigkeiten sie dir bietet, dann musst du dein Gewahrsein einsetzen. Und das ist das Neue an Gestalt. Ich glaube nicht, dass irgend ein anderes System die Idee vertritt, dass man eine klare Gegenwärtigkeit in seinem Leben und seiner Erfahrung zum gegebenen Zeitpunkt erlangen sollte, und die erklärt, was das für unser ›Funktionieren‹ bedeutet. Diese Idee ist gewiss kein Allheilmittel, aber sie ist interessant, einfach faszinierend. Es verschafft einer Person ein großes Stück Information, um ihr im Leben zu helfen. Wir Amerikaner tendieren dazu, oft nicht in der Gegenwart zu existieren. Wir sind zukunftsorientiert: ›Was wird sein? Wofür müssen wir vorsorgen?‹ Einige andere Kulturen, östliche Kulturen, Kulturen in der dritten Welt, sind vergangenheitsorientiert. Aber ich denke nicht, dass irgendjemand kulturell auf den gegenwärtigen Augenblick konzentriert ist« (L. Brien, in: R. Harman, Werkstattgespräche Gestalttherapie, Wuppertal 1990, S. 63). Literatur: Claudio Naranjo, Gestalt: Präsenz, Gewahrsein, Verantwortung (1993), Schönau 1996. Siehe auch: Adler, Alfred; Existenzialismus; Freud, Sigmund; Gewahrsein; Kontakt; Pragmatismus; Phänomenologie; Wahrnehmung © Stefan Blankertz und Erhard Doubrawa, Lexikon der Gestalttherapie, gikPRESS, Köln/Kassel 2017
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