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Stichwort: Bedürfnis Leseprobe in
voller Länge aus dem Ethymologie: Der Wortstamm zu »dürfen« hat sprachgeschichtlich Bedeutungen von »sich sättigen« über »sich erfreuen« bis zu »entbehren« angenommen und erst spät den Sinn von »erlauben« erhalten. Die negativen Schattierungen sind noch heute in »dürftig« (mangelhaft) und »bedürftig« (arm) lebendig. In der modernen Psychologie wird das Wort meist geradezu gleichbedeutend für jeden tiefergehenden »Wunsch« verwendet (davon unterschieden werden dann »Grundbedürfnisse«, ohne deren Befriedigung der menschliche Organismus – wahrscheinlich, angeblich – abstirbt; der englische Begriff »needs« betont diesen Aspekt). In der antiken und mittelalterlichen Psychologie steht dafür »Hunger« (»appetitus«), was auch die gestalttherapeutisch interessante Nahrungsanalogie des Lebens unterstreicht. Die ursprünglichen Begriffe »Begehr[en]« und »Begierde« klingen heute altertümlich und werden nur noch in speziellen Situationen verwendet, z.B. ironisierend oder moralisiernd für übersteigerte (sinnliche) Bedürfnisse. Bedeutung für die Gestalttherapie: Gestalttherapeutisch gesehen ist jedes Bedürfnis gleichzusetzen mit einem Wunsch nach Veränderung und beinhaltet somit einen aggressiven Akt, den der Organismus gegen die Umwelt ausführt. Das Bedürfnis ist ein Ungleichgewicht zwischen Umwelt und Organismus zu Ungunsten des Organismus’, der nach Ausgleich sucht. Unter den verschiedenen, zum Teil in Konkurrenz zueinander stehenden Bedürfnissen schafft der Organismus durch spontane Wertungen Prioritäten, also eine Bedürfnishierarchie hinsichtlich ihrer Wichtigkeit. Daraus lässt sich gestalttherapeutisch gesehen wohlgemerkt keine starre, für alle Menschen gleichlautende »Pyramide der Bedürfnisse« erstellen; die Prioritäten sind vielmehr für jeden anders. Prioritäten können auch »neurotisch« sein, das heißt, dass die eingeschlagenen Handlungsrichtungen nie zur wirklichen Befriedigung führen und der Lernprozess behindert ist. Die neurotische Strategie der Nichtbefriedigung von Bedürfnissen muss zunächst auch funktional gewürdigt werden als kreative Lösung eines Problems; wenn z.B. der öffentliche Ausdruck von tiefer religiöser Frömmigkeit als lächerlich geächtet wird, tut ein religiös bedürftiger Mensch gut daran, sich neurotisch an der Befriedigung seines Bedürfnisses zu hindern. Ein Bedürfnis selbst kann als Bedürfnis nie angezweifelt werden. Die Frage kann nie lauten, ob jemandem ein Bedürfnis erlaubt sei. Die Unterdrückung eines Bedürfnisses ist selbst dann problematisch, wenn, aus welchen Gründen auch immer, dessen Befriedigung (zunächst) unmöglich erscheint. Erst wenn alle Bedürfnisse ins Gewahrsein gehoben worden sind, kann eine Abwägung zwischen ihren Wichtigkeiten (Priorisierung) erfolgen, und es kann nach der sozialen Verträglichkeit der Umsetzung in Handlung gefragt werden. Vernunft, Bewusstsein und Ethik regeln sinnvollerweise nicht das Haben von Bedürfnissen, sondern erst die aus ihnen resultierenden Handlungen. Bedürfnisse aus Angst vor Frustrationen, die aus der Nichtumsetzbarkeit erfolgen könnten, gar nicht mehr zu spüren, ist zwar eine verständliche, aber auch »krankmachende« Vorgehensweise. Siehe auch: Aggression; Befriedigung; Bewusstsein; Ethik; Gestaltwelle; Gewahrsein; Neurose; Selbst © Stefan Blankertz und Erhard Doubrawa, Lexikon der Gestalttherapie, gikPRESS, Köln/Kassel 2017
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