![]() ![]()
|
|
|
Stichwort: Buddhismus Leseprobe in
voller Länge aus dem Die asiatische Lehre des Siddhartha Gautama, der als Weiser den Ehrentitel »Buddha« erhielt, entstand im fünften oder sechsten Jahrhundert v. Chr. Zentrum der Lehre ist die Vorstellung, durch ein reines (asketisches) Leben Erlösung vom Leid durch den Eingang ins Nirwana zu erlangen. Das Leid ist mit dem Sein identifiziert und das Nirwana mit dem Nichts. Trotz der darin liegenden Tendenz zur Seinsverneinung führt der buddhistische Weg zur Erlösung paradoxer Weise über das unverbrüchliche Akzeptieren allen Seins, was sich besonders in dem Verbot ausdrückt, irgendwelches Leben zu zerstören oder auch nur zu beeinträchtigen. Eine bewundernswürdige Leistung des Buddhismus besteht darin, dass er sich als einzige Weltreligion zu keinem Zeitpunkt in den Dienst von Herrschaftsinteressen stellen ließ. Bedeutung für die Gestalttherapie: Die geistigen Wurzeln der Gestalttherapie sind eher im Abendland zu verorten, besonders in der aristotelischen Psychologie und thomistischen Ontologie (Seinslehre) mit dem Primat individueller Bedürfnisse und Glücksansprüche, in der kantischen Philosophie des Ich, in der sich ebenfalls auf Kant zurückführenden Phänomenologie, in der buberschen jüdischen Spiritualität sowie in der Psychoanalyse. In der Frage der Haltung zum Organismus und seinen aggressiven Ansprüchen der Umwelt gegenüber ergibt sich eine Entgegensetzung zur buddhistischen Lehre. Paul Goodmans Kritik an Gandhis Pazifismus (dieser würde das schlechte Gewissen verstärken, das die Menschen dabei hätten, ihre Ansprüche mit der lebensnotwendigen Aggressivität einzufordern, und darum den Ausbruch unkontrollierbarer Destruktivität vorbereiten) könnte auch auf den Buddhismus bezogen werden. Dennoch gibt es mögliche Berührungspunkte, wie der amerikanische Gestalttherapeut Stephen Schoen ausführt: »Erstens haben beide den Glauben an die menschliche Fähigkeit zur Umgewöhnung. Wir bleiben nicht stehen in unserem Denken und Fühlen, und wollte man das tun, so wäre das der Tod. Die inneren Gebote, unter denen wir leiden (»Ich sollte besser organisiert sein«, »Du sollst mich nicht enttäuschen«), müssen erkannt werden und im Bewusstsein freien Spielraum haben, damit die »Gestalten«, deren Teil sie sind, sich vollenden und uns loslassen. Das ist die Kunst der Therapie. Mit Bewusstsein voranschreiten ist die Essenz des menschlichen Lebens. Wenn beispielsweise mein genetischer Code festlegte, dass ich in einer Chopin-Etude einfach keine falschen Noten spielen könnte, hätte ich als Pianist ein Gefühl schicksalhafter Leichtigkeit, das ich so nicht habe. Mir würden jedoch die Bewusstheit, die wache Aufmerksamkeit, das Gefühl von Macht und die ästhetische Begeisterung fehlen, die mit der Entwicklung einer Fertigkeit und deren Einstimmung auf einen musikalischen Zweck einhergehen. Diese bewusste Steuerung der Entwicklung von Gewohnheiten und Fertigkeiten – ihre Einschätzung, ihre Lenkung und ihre Aufgabe, wenn dies meinen Bedürfnissen und Zwecken entspricht – ist das besondere Vorrecht und die Verantwortlichkeit des Menschen. Dem Zen zufolge handelt es sich auch dann nicht um bloße Reflexe, wenn man isst, weil man hungrig ist, und schläft, wenn man müde ist; beides ist meine Leistung und meine Verantwortung. Bewusstheit in Verbindung mit Reaktion auf das, was im Augenblick geschieht, ist immer Bewusstheit von etwas Neuem, auch wenn die Bestandteile jeder Situation vertraut sein mögen. Ich sehe beispielsweise mein Auto und gehe darauf zu. Ich greife in meine Tasche, um den Schlüssel herauszunehmen und die Tür zu öffnen. Rasch überblicke ich die Bestandteile der Situation: Schlüssel, Auto, Ort, Tageszeit, Stimmung. Bei der eigentlichen Handlung jedoch, den Schlüssel ins Schloss zu stecken, begegne ich etwas Neuem; ein neues und unvorhergesehenes Muster präsentiert sich. Wir leben immer in einzigartigen, neu entdeckten Mustern – ein plötzlicher Zweifel, ein plötzlicher Streit, eine plötzliche Lust – und wenn wir versuchen, sie im Licht ihrer separaten Bestandteile zu sehen, führt das nur zur Verwirrung und Selbstquälerei. Es gibt noch eine zweite wichtige Verbindung zwischen Gestalttherapie und buddhistischer Psychologie. Ich greife nach dem Schlüssel in meiner Tasche – er ist nicht da. Ich gehe ins Haus zurück und suche. Ich kann ihn nicht finden. Jetzt ist die Neuheit der Situation dramatisch. Ich spüre eine leise Ungewissheit, die rasch zu Panik wächst, merkwürdig durchsetzt mit Erregung. Dann beginne ich mir wirkliche Sorgen zu machen. Ich habe wichtige Pläne für den Tag, Verabredungen, Termine. Alles ist in Frage gestellt. Ich setze mich hin, um mich zu sammeln, neue Pläne zu machen. Ich möchte andere nicht warten lassen. Ich möchte, soweit möglich, meine Gelassenheit bewahren. Dann frage ich mich plötzlich: ›Muss ich mich eigentlich aufregen?‹ Auf dieser Ebene der Selbstbewusstheit begegne ich zu meiner Überraschung sehr tiefen Prämissen: der Wichtigkeit, die ich meinen Plänen beimesse, der Erwartung, dass ein Handlungsprogramm wie vorgesehen abläuft, der Annahme, dass ich auf Stabilität und Zuverlässigkeit in meiner Umgebung angewiesen bin, um mich wohl zu fühlen, dem Gedanken, dass ich ein Gefühl der Dauerhaftigkeit nicht nur im Hinblick auf Pläne, sondern auch im Hinblick auf mein eigenes Selbst brauche, um zu spüren, dass ich intakt bin. All dies ist mit einem Mal in Frage gestellt. Mitten in der täglichen Routine stehe ich vor dem, was Chögyam Trungpa ›eine Lücke‹ nennt. Ich gestatte mir zu betrachten, wie ich mein eigenes Leiden schaffe. Das Beispiel ist trivial, doch es ähnelt dem, worum sich die psychologische Arbeit immer wieder dreht. In der Psychotherapie entdecke ich, wie ich dahin gekommen bin, mich selbst auf eine spezielle Weise zu sehen – abhängig von meiner Mutter, eingeschüchtert durch meinen Vater. Dann sehe ich, dass ich mich nicht abhängig machen oder unterwerfen muss. Ich fange auch an wahrzunehmen, dass ich je nach der aktuellen Situation anders bin – jetzt bin ich abhängig, jetzt bin ich unabhängig. Mein »Selbst« hat überhaupt keine feste Bedeutung. Es gewinnt, wie Gregory Bateson es ausdrückt, ›eine Art Irrelevanz‹« (Stephen Schoen, in: Wenn Sonne und Mond Zweifel hätten [1996], Wuppertal 2004, S. 60f). © Stefan Blankertz und Erhard Doubrawa, Lexikon der Gestalttherapie, gikPRESS, Köln/Kassel 2017
[Impressum] [Datenschutz]
|
![]()
![]()
|