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Stichwort: Wilhelm Reich Leseprobe in
voller Länge aus dem Lebensdaten: Geboren 1897 in Dobrzcynica (Galizien), gestorben 1957 in Lewisburg (Pennsilvania, USA). Zunächst Psychoanalytiker im Umkreis Sigmund Freuds. Indem er die Qualität des sexuellen Erlebens (»orgastische Potenz«) ins Zentrum seiner psychotherapeutischen Anstrengungen stellte, wurde er von Freud geächtet, eine Kränkung, die Reich zeitlebens nicht überwand. Reich erkannte überdies, welch großen Anteil repressive gesellschaftliche Strukturen an der Entstehung seelischer Störungen haben. Er gründete die »Sexpol-Bewegung« (»Sexpol« als Zusammensetzung aus »sexuell« und »politisch«) und versuchte, im Rahmen der kommunistischen Bewegung zu wirken, wurde jedoch von dieser ebenso zurückgewiesen wie von den Psychoanalytikern. Nach Reichs Theorie bildet sich durch die sexuelle Unterdrückung ein »Charakterpanzer«. Mit diesem schützt sich der Mensch vor seinen sexuellen Bedürfnissen, verhärtet sich jedoch damit zugleich gegen die Lebensfreude und gegen ein gutes gesellschaftliches Zusammenleben. In der Therapie konzentrierte sich Wilhelm Reich zunehmend auf die körperlichen Auswirkungen des Charakterpanzers (nämlich den Verspannungen) und widmete sich deren Lockerung (»Vegetotherapie«, später von seinem Schüler Alexander Lowen in der »Bioenergetik« weiterentwickelt). Anfang der 1930er Jahre machte Fritz Perls (auf Anraten von Karen Horney) eine Lehranalyse bei Wilhelm Reich. Fritz Perls hat sich dazu später nie geäußert, und Laura Perls bestätigt, dass er auch privat mit ihr nie über diese Erfahrungen gesprochen hat (Laura Perls im Gespräch mit Daniel Rosenblatt, in: Meine Wildnis ist die Seele des Anderen, [1972] 2005, S. 62ff). Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933 musste Reich 1934 Deutschland verlassen. Im norwegischen Exil befasste er sich mit Studien auf der Grenze zur Naturwissenschaft und entwickelte seine »Orgon«-Theorie. An Beobachtungen energetischer Prozesse beim Orgasmus meinte Reich, auf eine bisher unentdeckte Energieform gestoßen zu sein, gleichsam eine universelle kosmische Lebensenergie (»Orgon«). Da die Vorstellung der Orgontheorie dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik (»Entropiesatz«) widerspricht, wurde Reich nicht ernst genommen, und eine objektive Überprüfung seiner Thesen steht bis heute aus. Der Hass von Psychoanalytikern, Kommunisten, Faschisten und Naturwissenschaftlern zusammen und Wilhelm Reichs eigene, ungeschickte Verhaltensweisen führten dazu, dass er auch aus Oslo fliehen musste. Ab 1939 hielt sich Reich in den USA auf und vertiefte seine Orgonstudien. Er sah sich von Kommunisten verfolgt und versuchte, bei der amerikanischen Regierung Schutz zu erhalten. Es liegen inzwischen sogar Hinweise vor, dass es wirklich eine kommunistische Verschwörung gegen Reich gegeben hat, die von kommunistisch unterwanderten Teilen der FDA (Food and Drug Administration, eine Institution zur Aufsicht über das Gesundheitswesen) ausging: Die FBI-Akten zu Wilhelm Reich sind mittlerweile zugänglich und zeigen, dass das FBI sich ihm gegenüber »neutral« verhalten hat, während bestimmte Kräfte in der FDA aktiv gegen ihn intrigierten. Da Reich u.a. damit experimenttierte, mit Hilfe von Orgon Krebs zu therapieren, fand sich auch ein Ansatzpunkt für die Intrige: Reich wurden diese Experimente wegen angeblicher »Wirkungslosigkeit« untersagt. Reich hielt sich nicht an das Verbot und wurde daraufhin von Polizeikräften der FDA verhaftet, während man sein Labor, in welchem ein nach Berichten von Augenzeugen funktionsfähiger Orgonmotor in der Entwicklung war, zerstört wurde. Viele seiner Schriften, darunter auch solche, die in keinem Zusammenhang mit der Orgontherapie standen, wurden verbrannt, ihre Verbreitung und sogar ihr Besitz verboten. Es ist nicht zu leugnen, dass Reich in seiner Schlussphase an Verfolgungswahn litt und seine Absichten, mit Hilfe von »Orgonkanonen« Ufos abzuschießen, lächerlich wirkten. Auf der anderen Seite muss klar sein, dass Reichs »Verrücktheit« ein Symptom von wirklicher Verfolgung war, unter der er litt. Jedoch ist dieses Symptom bis heute die Entschuldigung dafür, seine Ideen zu marginalisieren. Hauptwerke: Die Funktion des Orgasmus (1927; mit der Orgontheorie überarbeitet 1942); Die Charakteranalyse (1933), Die Massenpsychologie des Faschismus (1934); Der Krebs (1948). Bedeutung für die Gestalttherapie: Trotz der großen Bedeutung der Arbeiten von Wilhelm Reich für die Gestalttherapie gibt es auch eine sehr weitgehende kritische Auseinandersetzung. Wilhelm Reich strebte, wie auch die Gestalttherapeuten, einen Abbau sozialer Unterdrückung als wesentliche Aufgabe der Psychotherapie an. Doch Reichs Auffassung ist begründet in einer simplen Umkehrung von Freud: Das Es ist nicht zerstörerisch, sondern stets »gut«. Die Triebe, die das Es ausmachen, stehen Reich zufolge in einem Verhältnis natürlich »prästabilierter« Harmonie zueinander. Die Harmonie werde nur gestört durch die soziale Unterdrückung, die das Ego schaffe, wie Reich in diesem Punkt ganz Freud folgend meinte. Gegen diese durch Reich vorgelegte harmonistische Version von Freud wendet die Gestalttherapie ein, dass die Annahme einer automatischen, also »prästabilierten« Harmonie der Es-Triebe problematisch ist. Die Gestalttherapie weist auf die notwendig aktive Rolle des Ego (= Selbst) hin, nämlich mit moralisch-verantwortlichem Verhalten die Triebe untereinander in ein lebensfähiges Gleichgewicht zu bringen und zu einer sozialen Verträglichkeit zu finden. Abbau von Unterdrückung bedeutete für die Gestalttherapie gerade kein Ende von inneren und sozialen Konflikten; vielmehr ermöglicht der Abbau von Unterdrückung, die Konflikte vernünftig, moralisch, verantwortlich und schöpferisch auszutragen. E. u. M. Polster: »Auf der physischen Ebene der reflexiven Integration hat Reich schon vor langer Zeit ein Phänomen beschrieben, das er den Orgasmusreflex nannte. Unter der Wirkung eines sich aufbauenden Orgasmus werden die Bewegungen eines Menschen vollkommen synchronisiert. Wir glauben, dass die von Reich beschriebene Harmonie, die beim Orgasmus eintritt, bei jeder wichtigen Funktion beobachtet werden kann, die den ganzen Organismus einbezieht. Ähnliche Explosionen beanspruchen die ganze Muskulatur, beispielsweise beim Niesen, Husten, Weinen, Lachen, Erbrechen, Defäkieren. […] Perls’ Interesse für den Charakter des Menschen im Unterschied zu seinen Symptomen ist in erster Linie Reich zu verdanken. Anstatt sich ausschließlich auf die Symptome zu konzentrieren, nahm Reich das alltägliche Verhalten in die Analyse auf, indem er Sprache, Haltung, Muskelbewegungen und Gestik mit berücksichtigte. Er glaubte, dass in diesen gewohnheitsmäßigen Ausdrucksweisen die chronischen Neutralisierer der Erfahrung eingebettet waren und dass die Psychoanalyse zwecklos sein würde, solange sie nicht aufgelöst würden. Reich entwickelte eine Methodologie, die diese Auflösung zum Ziel hatte, wobei er sie ganz konkret und spezifisch formulierte. Das Konzept der Libido zum Beispiel, das ursprünglich formuliert worden war, um die Erogenität des Kleinkindes zu erklären, war im analytischen Denken zu einer mystischen Abstraktion geworden. Reich formulierte die Libido neu als Erregung, was die gegenwärtige Aktivität erklärt, ohne sich in Spekulationen über das Instinktmäßige oder das Infantile zu verlieren. Reich beschrieb die Schaffung des Körperpanzers als die gewohnheitsmäßigen Rückstände der gewohnheitsmäßigen Repression, die für ihn nur daraus bestand, dass ein Mensch selektiv seine Muskeln anspannte. Die Therapie zielte darauf, diese einschränkende Verspannung zu lockern, um die Erregung freizusetzen, die das Individuum begraben hatte. Dies war eine in ihrer Einfachheit eindrucksvolle Betrachtungsweise des Menschen, die solch grundlegende Verhaltensweisen wie Gefühlserregung, Orgasmus sowie unmittelbare und nicht entstellte Ausdrucksformen beleuchtete. Reich war aufgebracht über die hintergründigen Implikationen in Freuds Theorie der Sublimation, die Erwachsenenaktivitäten wie Chirurgie, Kunst und Sport als reine Verkleidungen beschrieb, die einer Gesellschaft entgegenkamen, welche die versteckten Motive für diese Verhaltensweisen als anstößig betrachtete. Er wollte das menschliche Verhalten als solches untersuchen – eine Betrachtungsweise, der in einer Gestalttherapie in starkem Maße Rechnung getragen wird. Reichs Bereitschaft, einfache Aktionen einfach zu betrachten, führte zu einer wirksameren Phänomenologie« (Erving und Miriam Polster, Gestalttherapie, 1975, S. 75/299f). Paul Goodman: »Es gibt in Reichs Schriften einige Passagen, in denen er sagt: ›Es sollte dieses oder jenes Gesetz geben‹ – anstelle dieses Anti-Sex-Gesetzes irgendein anderes Anti-Anti-Sex-Gesetz. Vielleicht handelt es sich dabei nur um triviale, durch Ignoranz verursachte Ausrutscher; aber das Ärgerliche dabei ist, dass diese spezifische Art von Ignoranz zum Dogma erhoben wird. Reich war großartig, als er sich als Naturforscher und leidenschaftlicher Arzt weiterentwickelte; man fühlte sich berührt, als er, ein erwachsener Mann, sich laut darüber beklagte, wie er gehetzt wurde und wie klein der kleine Mann ist; doch er und seine Mitarbeiter wurden zum ärgerlichen Hemmnis, als sie sich wie eine bevollmächtigte zentrale Planungskommission für eine bessere Gesellschaft aufspielten, und als sie sich für eine langweilige Wissenschaft engagierten, die jenen Obsessionen zum Opfer fiel, von denen der Orgasmus sie eigentlich befreit haben sollte. Meiner Meinung nach hat die Therapie Wilhelm Reichs eine gravierende Schwäche. Er betrachtet den Organismus als viel isolierter und unabhängiger, als er in Wirklichkeit ist. Psychologisch gesehen führt das dazu, das Selbst als das Selbst-des-›Körpers‹ zu begreifen, wohingegen es viel vorteilhafter ist, das Selbst als Prozess der Strukturierung von Organismus und Umwelt zu betrachten. Wilhelm Reichs Fehler wird an einem wichtigen, von ihm angewandten Modell explizit: der Organismus als eine Blase mit einem System homoöstatischer Spannungen, die aufgelöst werden sollen. Aber der Organismus ist gegenüber der Umwelt wesentlich offener als von Reich angenommen, und diese Spannungen sind bei der Integration neuen Materials und beim Wachstum sehr wichtig. Die Reichianische Theorie liefert für Wachstum und Wandel keine angemessene Erklärung, und es ist schwer, sich eine Erklärung für Kreativität vorzustellen. Für Reich ist die Oberfläche in der Regel überflüssig und deswegen sollte man von der Oberfläche ausgehend zum tiefen Kern vordringen. So weit, so gut; aber die Oberfläche ist auch eine Kontaktschwelle, die dazu da ist, Entdeckungen und Manipulationen vorzunehmen und deren Alarmsystem keineswegs als etwas Neurotisches eingestuft werden sollte. Reich akzeptiert die Oberfläche nicht, er ›attackiert‹ sie. […] Aber in unserer heutigen realen Situation, wo es darum geht, richtig zu leben [… benötigen wir …] ein Reichianisches Programm. Die Lösung heißt: spontan Gefühle zeigen. Wie ich in der Zeitschrift ›Alternative‹ bereits sagte, sind ein Faustkampf und guter Sex die besten Mittel, um die Kriegsgefahr zu verringern; und diese Weisheit verdanke ich Wilhelm Reich« (Paul Goodman, Ein großer Pionier, aber kein Libertärer, 1958, in: ders., Natur heilt, Köln 1989, S. 115f). Siehe auch bei: Goodman, Paul; Perls, Fritz; Psychoanalyse; Stoffwechsel-Zyklus © Stefan Blankertz und Erhard Doubrawa, Lexikon der Gestalttherapie, gikPRESS, Köln/Kassel 2017
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