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Stichwort: Wahrnehmung Leseprobe in
voller Länge aus dem Etymologie: Der umfangreiche Wortstamm »wa(h)r« hat die z.T. widersprüchlichen Bedeutungen von Sein (Wahrheit), Glauben (Wahn, Wahnsinn), sichern, behüten, schützen (bewahren, verwahren) und zugestehen (gewähren) sowie erinnern. Das Verb »wa(h)ren« hat zusätzlich die Bedeutungen von sehen (gewahren, wahrnehmen) und in Acht nehmen (warnen). »Wahrnehmung« bezieht sich zunächst auf Interessen (»Mit der Wahrnehmung meiner Interessen betraut«), sowohl was das Bemerken der Interessen als auch das Achtgeben auf deren »Wahrung« betrifft. »Wahrnehmung« kann ursprünglich auch Rücksichtnahme und »für sich sorgen« heißen. Außerdem war die Bedeutung »prüfende Auswahl« wichtig. Meister Eckhart verwendete den Begriff zur Kennzeichnung von Selbstbeobachtung. Im Laufe der Zeit hat sich die Bedeutung von Beobachtung und Gewahren in den Vordergrund geschoben. Der Zusammenhang von »Wahrnehmung« und »Wahrheit« ist dann bei G.F.W. Hegel wieder hergestellt worden. Im erkenntnistheoretischen Programm der Phänomenologie ist die Tatsache, dass der Mensch wahrnimmt, der Ausgangspunkt für die Konstruktion des Wahrheitsbegriffs überhaupt. Verwendung in der Gestalttherapie: In »Gestalttherapie« gehen Perls, Hefferline, Goodman von Aristoteles’ »heilsamen Einsicht« aus, bei der Wahrnehmung seien Objekt und Sinnesorgan identisch (Band »Grundlagen«, S. 11): Nach Aristoteles ist alles Wahrnehmen ein Berühren bzw. ein Berührtwerden: Das Sinnesorgan berührt das Objekt oder wird von ihm berührt. Bei Tasten, Fühlen und Schmecken ist sofort einsichtig, was gemeint ist. Aber auch beim Sehen und Hören berührt das Sinnesorgan etwas, das vom Objekt ausgeht (in diesem Fall: Licht- resp. Schallwellen). Der allgemeinere Begriff, den Perls, Hefferline, Goodman einführen, um diesen Vorgang zu bezeichnen, ist Kontakt. Die Wahrnehmung (bzw. sogar: das Leben) geschieht an der Kontaktgrenze, dort eben, wo sich Organismus (bzw. Sinnesorgan) und Umwelt berühren und gleichsam vermischen. Die zentrale Rolle, die die Wiederherstellung der Fähigkeit zur Wahrnehmung in der Gestalttherapie spielt, ist Ausdruck der eigentümlichen Haltung zwischen Subjektivismus und Objektivität: Auf der einen Seite ist es das Subjekt (der einzelne individuelle Organismus), der etwas wahrnimmt. Seine Interessen wählen das aus, was wichtig ist (Figur/Grund-Prozess). Aus den Sinnesdaten werden sinnvolle Zusammenhänge geschaffen (Gestaltqualitäten). Auf der anderen Seite ist das, was wahrgenommen wird, nicht ein beliebiges Fantasieprodukt des Wahrnehmenden, sondern hat eine Wirklichkeit außerhalb des Wahrnehmenden. Denn andernfalls gäbe es nichts wahrzunehmen, und alles wäre bloß eine Projektion. Die Unfähigkeit, genau hinzusehen und hinzuhören, die Tendenz, den Menschen und Dingen etwas zu unterstellen, ist eine grundlegende Behinderung, die die Gestalttherapie zu heilen bestrebt ist. Denn der Organismus ist darauf angewiesen, die Ressourcen um ihn herum wirklichkeitsgetreu zu erkennen, um angemessen zu handeln. Es ergibt sich ein Problem, das von Kant auf den Punkt gebracht worden ist: Der Mensch kann die Dinge nicht so erkennen, wie sie an sich sind (»Ding an sich«), sondern nur so, wie es sein Wahrnehmungs- und Denkapparat zulässt. Wie sich das, was wir mit unserem Wahrnehmungs- und Denkapparat erkennen, zu den »Dingen an sich« verhält, können wir nicht wissen, da wir dazu einen Standpunkt außerhalb unserer selbst beziehen können müssten, was nicht möglich ist. Gleichzeitig müssen wir davon ausgehen (»postulieren«), dass wir nicht nur fantasieren, wenn wir wahrnehmen. Die gestalttherapeutische (nicht die philosophische oder erkenntnistheoretische) Lösung des Problems besteht darin, besonders vorsichtig beim Für-Wahr-Nehmen zu sein. Aussagen wie »Das ist so« oder »Das muss so sein« sind oft vorschnelle Beurteilungen, Bewertungen und Interpretationen. Vielmehr geht es darum, mit möglichst wenigen vorgefassten Meinungen genau zu beschreiben, was »ist«. Objektivität ist ein notwendiges, aber nie zu erreichendes Ziel. Siehe auch: Aristoteles; Awareness; Figur/Grund-Prozess; Gestaltpsychologie; Gestaltqualitäten; Gewahrsein; Interpretation; Kant, Immanuel; Kontakt; Phänomenologie; Projektion; Wirklichkeit © Stefan Blankertz und Erhard Doubrawa, Lexikon der Gestalttherapie, gikPRESS, Köln/Kassel 2017
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